Von Peter Ullrich, Philipp Knopp und Fabian Frenzel
| ABSTRACT
Die Chronologie stellt die Ereignisse der Protestwoche im Zeitverlauf zusammen und gibt einen Ăberblick ĂŒber das Geschehen vom 2.-9.7.2017 in Hamburg. Ein Prolog und ein Epilog beleuchten zudem konzise Vorlauf und Nachwirkungen. Titelbild: Rasande Tyskar (cc-by-nc via Flickr) |
Prolog: Hamburg auf dem Weg zum Gipfel
Im Jahr 2015 fĂ€llt die Entscheidung, das Treffen der âGruppe der 20â, das nach seiner Selbstbeschreibung âfĂŒhrende Forum der weltweit wichtigsten Ăkonomienâ in Deutschland auszurichten. Im Februar 2016 wird dann von der Bundeskanzlerin Angela Merkel Hamburg als Austragungsort bekanntgegeben. Dies bietet nach der gescheiterten Olympiabewerbung eine neue Gelegenheit fĂŒr die Hansestadt sich in der internationalen StĂ€dtekonkurrenz zu prĂ€sentieren. Auch logistische GrĂŒnde spielen eine Rolle. Nur wenige deutsche GroĂstĂ€dte bieten ausreichende Infrastruktur und Hotelbetten fĂŒr die 36 Delegationen mit ihren ca. 6.500 Mitgliedern, die tausenden Medienvertreter*innen[1] und die schlieĂlich eingesetzten ĂŒber 30.000 Polizist*innen.
Kritik am Treffen kommt von Bewohner*innen der Stadt, die befĂŒrchten, von SicherheitsmaĂnahmen oder drohenden Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und Polizei in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Eine Mehrheit der Hamburger*innen lehnt, wie eine spĂ€tere Umfrage zeigt, den Gipfel in ihrer Stadt ab.[2]
Bald regt sich auch politischer Widerstand gegen den Gipfel und seine Teilnehmer*innen, denen von Kritiker*innen nicht nur fehlende LegitimitĂ€t, sondern Verantwortung fĂŒr MissstĂ€nde der kapitalistischen Welt wie Armut, Krieg und Umweltzerstörung vorgeworfen wird. Die Beteiligung autoritĂ€rer und diktatorischer Staatschefs (unter anderem Donald Trump, Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan) verstĂ€rkt die Empörung. Die Protestgruppen organisieren sich in verschiedenen BĂŒndnissen ab dem FrĂŒhsommer 2016 und planen Gegenveranstaltungen in der Trias GroĂdemonstration, Gegengipfel und ziviler Ungehorsam.
Diese koordinieren sich zum Teil in der âG20-Plattformâ. Schon frĂŒh zeigt sich, dass es durchaus unterschiedliche politische Inhalte, Protestziele, Vorstellungen vom Erscheinungsbild und â eng damit verbunden â prĂ€ferierte Mittel des Protests gibt. Es wird unter anderem um Formulierungen zur Abgrenzung von Gewalt gerungen. Letztlich kommt es zu einer Spaltung im Protestspektrum. Etablierte zivilgesellschaftliche und Nichtregierungsorganisationen, die eher kritisch an die Lösungskompetenz der G20 appellieren wollen, planen deshalb eine eigene, von den sonstigen BĂŒndnissen getrennte, Demonstration (âProtestwelleâ) vor dem Gipfel. Neben zwei die Woche rahmenden, groĂen ProtestzĂŒgen werden noch ĂŒber 100 weitere Versammlungen mit verschiedensten Anliegen und von unterschiedlichsten Organisator*innen angemeldet.
Die Themen Gewalt und Sicherheit, die schon die BĂŒndnisgesprĂ€che mit prĂ€gten, stehen auch im Zentrum der polizeilichen Sicht auf das GroĂereignis. In den Monaten vor dem Gipfel hatte es nach Polizeiangaben ĂŒber 100 BrandanschlĂ€ge mit Gipfelbezug gegeben; stetig steigt auch die Zahl der von der Polizei erwarteten âgewaltbereiten Störerâ an, um zu Beginn der Protestwoche am 2. Juli die 8.000er Marke zu erreichen.[3] Doch auch eine abstrakte Terrorgefahr und die Anwesenheit verschiedenster Sicherheitsdienste der anreisenden StaatsgĂ€ste gehen in die Risikobewertung ein. Dieser komplexen Herausforderung plant die Polizei vor allem mit einer massiven Demonstration von StĂ€rke zu begegnen. Um die Sicherheit der StaatsgĂ€ste und den reibungslosen Gipfelablauf zu garantieren â diesem Ziel wird im Einsatzrahmenbefehl höchste PrioritĂ€t eingerĂ€umt â wird auf von anderen Gipfeln dieser Art bekannte Mittel zurĂŒckgegriffen â darunter die Einrichtung von polizeilichen Sonderrechtszonen.[4] Die in einer AllgemeinverfĂŒgung[5] ausgewiesenen sogenannten Transferkorridore zwischen dem Flughafen, den verschiedenen Gipfelorten wie den Messehallen und der Elbphilharmonie sowie den Hotels der StaatsgĂ€ste umfassen ein circa 38 kmÂČ groĂes Areal.
Aus Sicht der Demonstrierenden handelt es sich dabei um eine âdemokratiefreie Zoneâ. Versammlungen sind innerhalb des Gebiets, das einen GroĂteil der Innenstadt und angrenzende Bereiche zwischen Elbe im SĂŒden und Flughafen im Norden umfasst, grundsĂ€tzlich nicht gestattet. Auch die geplanten Protestcamps werden von den Sicherheitsbehörden im Einklang mit einer schon Monate vorher beschlossenen Haltung weitgehend behindert und nicht als grundgesetzlich geschĂŒtzte Versammlungen anerkannt, sondern vor allem als ,RĂŒckzugsorte fĂŒr GewalttĂ€terâ begriffen. Der Rechtsstreit, unter anderem um die Frage, ob Protestcamps dem Schutz des Versammlungsrecht unterliegen, geht bis zum Bundesverfassungsgericht. Wo die anreisenden Demonstrierenden unterkommen sollen, steht zu Beginn der Protestwoche weiter in den Sternen. Diese konflikthafte Konstellation am Vorabend des G20-Gipfels prĂ€gt auch die weitere Entwicklung.
Sonntag, 2. Juli
Die erste Demonstration âProtestwelleâ fĂ€llt kleiner aus als erwartet. In einem Demonstrationszug in der Innenstadt und auf Booten auf der Binnenalster demonstrieren einige tausend Menschen (8000 lt. Polizei, 25.000 lt. Veranstalter*innen). Auch ein groĂer âschwarzer Blockâ ist zugegen â in Form eines ĂŒberdimensionalen schwarzen Luftkissens, mit dem Protestierende die Diskussion um Gewalt persiflieren.
FĂŒr Aufsehen sorgt weiter der Streit um die Camps. Der Aufbau des am 1. Juli vom Verwaltungsgericht Hamburg erlaubten Camps mit Schlafzelten im Elbpark Entenwerder wird von der Polizei trotz Gerichtsbeschluss weiter behindert. Zur Abschlusskundgebung der Protestwelle gibt es deswegen eine Protestaktion mit Wurfzelten; Aktivist*innen errichten spontan ein symbolisches Camp auf dem Rathausmarkt.
Die Polizei löst die Sitzblockade der Initiative âCamps fĂŒr alleâ auf. Dabei setzt sie Zwangsmittel gegen die Protestierenden ein. Am Abend umstellen PolizeikrĂ€fte das Camp Entenwerder und beschlagnahmen Schlafzelte. Mehrere Demonstrant*innen werden verletzt, eine Person schwer. FĂŒr die Organisator*innen und andere Demonstrierende bestĂ€tigt das Vorgehen gegen das Camp ihre BefĂŒrchtung, dass die Polizei ĂŒber die gesamte Woche protestfeindlich agieren werde. In der Auseinandersetzung um die Camps etabliert sich eine neue Konfliktebene ohne direkten Bezug zum G20-Gipfel. Die Polizei wird aus Sicht der Protestierenden selbst zum politischen Konfliktgegner, was die weiteren Geschehnisse gravierend beeinflusst. Aus SolidaritĂ€t mit dem Antikapitalistischen Camp sagen die Anmelder*innen der fĂŒr Donnerstag (6.7.2017) geplanten âWelcome to Hellâ-Demonstration ein letztes KooperationsgesprĂ€ch ab, das auf ihren eigenen Wunsch am 3. Juli hĂ€tte stattfinden sollen. âYes, we campâ etabliert sich als neuer Slogan der Proteste. Schlafzelte werden zu politischen Symbolen fĂŒr die neue Konfliktdimension, in der es den Protestierenden ganz grundsĂ€tzlich um die Möglichkeit der AusĂŒbung ihres Grundrechts auf Versammlungsfreiheit geht, die sie durch die Verhinderungsstrategie der Polizei bedroht sehen.
In Erwartung des Kommenden beginnen Unternehmen damit, ihre Schaufenster zu verbarrikadieren oder hÀngen an die LÀden im Schanzenviertel ausgeteilte Plakate auf, in denen sie sich mit dem Anliegen des Protests solidarisieren und um Schonung ihrer GeschÀfte bitten. Die Motivlagen sind divers. Doch die explizite Kritik am G20-Gipfel, auch in vielfÀltig improvisierten Formen, ist im Stadtraum omniprÀsent.

Abbildung 1: Ein GeschĂ€ft in Hamburg bietet Protestierenden UnterstĂŒtzung (Handyaufladen, Wasser) und bittet um Schonung seiner Schaufenster (Foto: PU)
Montag, 3. Juli
Am Montag werden sowohl im Volkspark Altona und in Entenwerder die Camps weiter aufgebaut. Grundlage ist die nunmehr auch von der Polizei anerkannte Rechtslage, nach der Camps durch das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit geschĂŒtzt sind. Allerdings besteht die Polizei weiterhin auf ihrer erst am 5. Juli endgĂŒltig vom OVG zurĂŒckgewiesenen Interpretation, dass dieser Schutz sich nicht auf Schlaf und Versorgungszelte beziehe. Diese bleiben damit am Montag und Dienstag in beiden Camps faktisch verboten und die Polizei kontrolliert die Aufbauarbeiten streng. In Entenwerder berichten die Aufbauhelfer*innen von Schikanen, Durchsuchungen und Beschlagnahmungen. Auch Journalist*innen, die das Camp besuchen, werden Durchsuchungen unterzogen.
In Altona gibt es am Camp skurril anmutende Szenen, in denen Protestierende SchlafsĂ€cke und Essen an der Polizei vorbei schmuggeln. An einer Stelle werfen Aktivist*innen einzelne Kartoffeln ĂŒber die Polizeireihen in das Camp. EinsatzfĂŒhrer*innen vor Ort stellen den Demonstrierenden gegenĂŒber die Polizeistrategie in Frage.
Dienstag, 4. Juli
Die Vollversammlung des Antikapitalistischen Camps in Entenwerder entscheidet sich angesichts der fortdauernden Behinderungen fĂŒr die Aufgabe. Sie ruft stattdessen zur Errichtung wilder Camps in der ganzen Stadt auf. Einrichtungen öffnen ihre TĂŒren, darunter das Millerntorstadion des FC St. Pauli, Kirchen und das Hamburger Schauspielhaus. Abseits des Blicks der Ăffentlichkeit organisieren Initiativen wie âSchlaflos in Hamburgâ SchlafplĂ€tze fĂŒr Neuankommende. Die Campverbote werden zum StadtgesprĂ€ch; Hamburger*innen bieten auch privat Schlafgelegenheiten. Das Antikapitalistische Camp veröffentlicht ein Abschlussstatement mit dem Aufruf âWir sehen uns in der Innenstadt!â. Nach der Aufgabe des Camps verlagert sich das Konfliktgeschehen in die westlichen Innenstadtbereiche.
âAttacâ organisiert mit dem Fernsehkoch Ole Plogstedt als Anmelder eine spontane Protestaktion gegen die Campverbote, ein âSleep inâ im Volkspark Altona beim dortigen Protestcamp. Unter dem Titel âWir zeigen Haltung fĂŒr Demokratieâ findet in der Innenstadt eine improvisierte Pressekonferenz mit ReprĂ€sentant*innen aus der ganzen Breite des Protestspektrums sowie mit Vertreter*innen von Gewerkschaften, Kirchen, Parteien und Kulturschaffenden statt. Absehend von sonstigen Differenzen rufen sie den Senat auf, sich aktiv fĂŒr die Ermöglichung von Protest einzusetzen, die Gerichtsentscheidungen zu akzeptieren und das Versammlungsrecht ernst zu nehmen â inklusive der Möglichkeit, sich in Protestcamps auszutauschen und zu erholen. Am Nachmittag kommt es zu zahlreichen PolizeieinsĂ€tzen gegen spontan errichtete Camps, vor allem in St. Pauli.
Auch am Nachmittag fĂŒhrt das alternative Medienzentrum FCMC die erste seiner fortan tĂ€glich stattfindenden Pressekonferenz durch, um von geplanten Aktionen der nĂ€chsten Tage zu berichten.
Abends findet das âhedonistische Massencornernâ oder âHard Cornernâ statt. Tausende versammeln sich friedlich mit InfostĂ€nden, Musik oder schlicht zum GesprĂ€ch und GetrĂ€nk ,an der Eckeâ â aber im Zeichen des G20-Protests. Ungeachtet des friedlichen Verlaufs der Veranstaltung rĂ€umt die Polizei spĂ€ter die StraĂe im Bereich Neuer Pferdemarkt mit Wasserwerfern, was bei den Anwesenden Empörung produziert.
Mittwoch, 5. Juli
Der âGipfel fĂŒr globale SolidaritĂ€tâ, organisiert von ca. 70 politischen Gruppen, BildungstrĂ€ger*innen und NGOs beginnt in der Kulturfabrik Kampnagel. Nach Veranstalter*innenangaben diskutieren auf dem Gegengipfel ĂŒber 2.000 Menschen in 11 Podien und ĂŒber 70 Workshops ihre Kritik an der Krise und ihre Ideen fĂŒr eine gerechtere Welt. Der Gipfel wird mit einer Rede von Vandana Shiva eröffnet, einer globalisierungskritischen Wissenschaftlerin aus Indien.
Zur Mittagszeit fĂŒhren KĂŒnstler*innen die Performance â1000 Gestaltenâ durch. Wie Zombies ziehen diese ganz in Grau gekleidet und vollstĂ€ndig mit Lehm ĂŒberzogen in einem langsamen Zug zum Burchardplatz. Erst nach einer quĂ€lend langen Zeit beginnen sich die Gestalten, erst vereinzelt, dann immer mehr und immer fröhlicher von ihren grauen HĂŒllen zu befreien. Aus den trist-grauen werden fröhlich-bunte Gestalten. âDie 1000 GESTALTEN sollen eine Gesellschaft verkörpern, der das GefĂŒhl dafĂŒr abhanden gekommen ist, dass auch eine andere Welt möglich ist.â beschreiben die KĂŒnstler*innen ihr Anliegen.[6]
Auch weitere Demonstrationen stehen auf der Tagesordnung. Ab dem frĂŒhen Abend zieht die Nachttanzdemo âLieber tanz ich als G20!â als Rave durch St. Pauli und die Sternschanze. Die Polizei zĂ€hlt 11.000, die Veranstalter*innen um die 20.000 Protestierende, die zu Musik von Lastwagen tanzend demonstrieren. Neben den kapitalismuskritischen Grundanliegen wird mit vielen Plakaten auf die Campproblematik Bezug genommen. Die Polizei fĂ€hrt Wasserwerfer auf â Bilder die fortan neben dem Sound der Hubschrauber zum Dauereindruck fĂŒr Hamburger*innen und angereiste Protestierende werden. Sie hĂ€lt sich jedoch weitgehend zurĂŒck und die Veranstaltung verlĂ€uft bis zur Auflösung ohne ZwischenfĂ€lle. Ăberraschend treten die Hamburger Rapper âDie absoluten Beginnerâ und Samy Deluxe auf.
Das Oberverwaltungsgericht hat inzwischen entschieden, dass die Polizei in Camps auch Schlaf- und Versorgungszelte erlauben muss. Im Protestcamp Altona werden daraufhin durch die Versammlungsbehörde 300 Schlafzelte genehmigt, weit weniger als von den Organisator*innen erhofft und benötigt. Dennoch feiern die Demonstrierenden den Sieg. Aktivist*innen aus dem am Nachmittag eintreffenden Sonderzug ziehen in das Camp ein. Das Camp ist nun mit circa 1.000 Protestierenden das gröĂte neben einer Reihe von kleinen Camps, die sich auf privaten GrundstĂŒcken gebildet haben.
Donnerstag, 6. Juli
Tag zwei des âGipfels fĂŒr globale SolidaritĂ€tâ. Nach vielen weiteren Workshops diskutiert die Abschlussveranstaltung eine neue Internationale der globalen SolidaritĂ€t und Strategien gegen die Neue Rechte. Die Delegationen der Gipfelteilnehmer*innen reisen an. Der Transfer vom Flughafen in die Messe und die verschiedenen Hotels wird bis spĂ€t in die Nacht dauern.
Im RĂŒckblick steht der Tag allerdings vor allem im Zeichen der antkapitalistischen und herrschaftskritischen Demonstration âWelcome to Hellâ. Diese versammelt sich am Nachmittag zur Auftaktkundgebung. Bei gutem Wetter und ebensolcher Stimmung fĂŒllt sich der Fischmarkt. Zu der Demonstration mit dem vieldeutigen Titel erwartet die Polizei 7.000-8.000 gewaltbereite Autonome. Im Nachhinein spricht sie jedoch nur von 1.000 gewaltbereiten neben 9.000 friedlichen Demonstrierenden.[7]
Der Demonstrationszug wird nach der Auftaktkundgebung von mehreren Einsatzhundertschaften und Wasserwerfern gestoppt. Umgeben von Schaulustigen stehen sich Polizei und Demonstrierende gegenĂŒber. Die Polizei fordert die Protestierenden (darunter auch mindestens vier Polizist*innen), die an der Spitze und in der Mitte des Zuges jeweils einen schwarzen Block bilden, dazu auf, ihre Vermummung in Form von Sonnenbrillen, TĂŒchern und Kopfbedeckungen abzunehmen. TatsĂ€chlich nehmen viele im vorderen Bereich der Demonstration die Vermummung ab. Noch wĂ€hrend der Verhandlungen zwischen Anmelder*innen und Einsatzleitung separieren Polizist*innen den ersten Teil der Demonstration. Kurz darauf dringen erneut Polizeieinheiten mit massivem Gewalteinsatz seitlich in die Demonstration ein. Ăber das AusmaĂ der noch bestehenden Vermummung gibt es unterschiedliche EinschĂ€tzungen.
| âMehrere NDR Reporter vor Ort berichten ĂŒbereinstimmend, dass von den Demonstranten zunĂ€chst keine Gewalt ausgegangen sei. Allerdings haben tatsĂ€chlich viele Mitglieder des âschwarzen Blocksâ ihre Vermummung nicht abgelegt. Zuvor soll es Absprachen zwischen Polizei und Demo-Veranstaltern gegeben haben, wie viel Vermummung fĂŒr die Polizei hinnehmbar ist. Offenbar konnte man sich bei diesen GesprĂ€chen nicht einigen. Dann gab es offenbar einen einzelnen Flaschenwurf eines anscheinend angetrunkenen Mannes, den Demonstrationsteilnehmer selbst von der Menge isolierten. Offenbar gab es auch im “schwarzen Block” Ansagen, keine GegenstĂ€nde auf die Polizei zu werfen und eine Eskalation zu vermeiden.â — NDR.DE, G20 Liveblog, 6.7.2017 |
Die Abtrennung der Vermummten vom Rest des Zuges misslingt, stattdessen bricht Panik aus. Viele der Demonstrierenden versuchen ĂŒber die Hafenmauer zu entkommen. Aus verschiedenen Richtungen werden GegenstĂ€nde auf die Polizist*innen geworfen. Mit hohem Gewalteinsatz wird die Demonstration letztlich zerstreut. Auf dem Fischmarkt und in der HafenstraĂe laufen Polizeieinheiten umher und versuchen Personen festzunehmen. In der Neuen BergstraĂe und der HolstenstraĂe kommt es zu schweren SachbeschĂ€digungen durch verstreute militante Gruppen. An verschiedenen Orten werden Polizist*innen angegriffen. Obwohl die Situation weiter angespannt ist, stellen sich an der Reeperbahn und in der HafenstraĂe Nachfolgedemonstrationen auf. Beide vereinen sich spĂ€ter. Auch im Kontext dieser Demonstrationen kommt es am spĂ€teren Abend im Schanzenviertel zu teils massiven Konfrontationen zwischen Protestierenden und Polizei. Die Polizei löst die Demonstration daraufhin gewaltsam auf und rĂ€umt zum ersten Mal in der Protestwoche das Schulterblatt.
FĂŒr alle Seiten ist die Auflösung der âWelcome to Hellâ-Demonstration ein Wendepunkt im Geschehen. Auf Seiten der Veranstalter*innen und ihres politischen Umfeldes sowie kritischer Beobachter*innen wurde und wird spekuliert, ob die Auflösung an dieser Stelle ohnehin geplant war, also ein Ankommen der Demonstration am Zielort nahe den Messehallen polizeilich nie vorgesehen war. Grund fĂŒr diese Spekulationen ist vor allem, dass die Demonstration von der Versammlungsbehörde nicht mit Auflagen belegt worden war. Das ist ungewöhnlich, vor allem bei dem hohen ihr zuvor zugeschriebenen Gefahrenpotenzial.
Sowohl Demonstrationsteilnehmer*innen als auch ranghohe Polizeibeamt*innen zeigen sich schockiert vom Gewaltniveau des jeweiligen GegenĂŒbers. WĂ€hrend die EinsatzfĂŒhrung einen derart massiven Bewurf durch Umstehende nicht erwartet habe, sprechen Protestierende vom Verlust der bisherigen Gewissheit, dass es bei Protesten in Deutschland ,keiner auf der StraĂe liegen bleibtâ. Auf beiden Seiten wird das Erleben und die jeweilige Deutung dieser Situation fortan im Zentrum der Konfliktkonstellation stehen, die sich immer mehr polarisiert. Auch die mediale Berichterstattung wandelt sich zunehmend: wĂ€hrend es bis zu diesem Zeitpunkt durchaus unterschiedliche Sichtweisen auf das Geschehen gab, steht in den meisten Medien bald nur noch ,Gewaltâ im Zentrum der Berichterstattung, und zwar im Wesentlichen die der Protestierenden.
Der schwelende Konflikt zwischen der protestfeindlichen polizeilichen Linie und den Protestierenden, der in den vergangenen Tagen immer wieder auch von Momenten der Deeskalation und des erfolgreichen, ungehinderten Protests unterbrochen wurde, schlĂ€gt nun endgĂŒltig in physische Konfrontation um. Das protestaffine Spektrum solidarisiert sich untereinander ebenso wie das ordnungspolitische Lager. Die politische Debatte ist geprĂ€gt von EntrĂŒstung und Polarisierung.
Freitag, 7. Juli
Das G20-Gipfeltreffen selbst beginnt. Auf der Agenda stehen Fragen des Welthandels, Terrorismus, die Klimapolitik nach dem Ausstieg der USA aus dem Pariser Ăbereinkommen und die Situation Afrikas.
Bei vielen Protestierenden sitzt der Schock angesichts der Ereignisse des Vortags noch tief. Anmelder*innen von Versammlungen ĂŒberlegen Demonstrationen abzusagen, weil sie um die Unversehrtheit der Teilnehmenden fĂŒrchten. Ăber vierzig Versammlungen und Kunstaktionen, die die Politik der G20 kritisieren, finden jedoch an diesem Tag statt.
Das erste aufsehenerregende Ereignis des Morgens: Eine Gruppe schwarz Gekleideter zieht durch die Elbchaussee in Hamburg-Altona, setzt fast 20 Autos in Brand, errichtet Barrikaden, zerstört Schaufensterscheiben. Auf Höhe der GroĂen BergstraĂe teilt sich der Zug. Ein Teil greift Polizeifahrzeuge vor der Bundespolizei-Wache Altona an, wĂ€hrend andere in die GroĂe BergstraĂe ziehen. Dort werden BrandsĂ€tze vor einem IKEA-Markt gezĂŒndet.
Derweil beginnen rund um die Sonderrechtszone Protestaktionen mit dem Ziel der Blockade von Protokollrouten, auf denen die Konvois der StaatsgĂ€ste zum MessegelĂ€nde fahren. Das BĂŒndnis âBlock G20â will die ,rote Zoneââ bunt fĂ€rben: Ihre Proteste nennen sie âColour the red zoneâ. GemÀà verabredetem Aktionskonsens soll keine gewalttĂ€tige Eskalation provoziert, aber mittels entschlossenem ziviler Ungehorsam der Gipfel blockiert werden. Vier nach Farben unterschiedene Demonstrationsfinger versammeln sich, um sich dem Veranstaltungsort aus mehreren Richtungen zu nĂ€hern, polizeiliche Absperrungen zu umgehen oder zu âdurchflieĂenâ. Einzelne Termine im Gipfelprogramm werden so tatsĂ€chlich beeintrĂ€chtigt. Einsatzleiter Hartmut Dudde entscheidet sich, die Bundesreserve zu alarmieren; rund 1.000 weitere Bereitschaftspolizist*innen werden umgehend nach Hamburg entsandt.
Die vor allem vom internationalen linksradikalen BĂŒndnis âBeyond Europeâ getragene Blockadeaktion im Hafen unter dem Titel âShut down the logistics of capitalâ verlĂ€uft â obwohl auch sie in der polizeilichen Gefahrenprognose prominent ErwĂ€hnung findet â konfrontationsfrei. Mit dem Hafen soll ein wichtiger âKnotenpunktâ der Infrastruktur des Kapitalismus blockiert werden.
Zu Konfrontationen kommt es stattdessen bei den Aktionen der verschiedenen Blockadefinger um die und innerhalb der Sonderrechtszone. Ein unangekĂŒndigter Demonstrationszug bricht morgens vom Camp am Volksparkstadion auf und wird in der StraĂe Rondenbarg von der Polizei gewaltsam gestoppt. Zuvor war es aus dem heterogen zusammengesetzten Zug heraus zu SachbeschĂ€digungen und SteinwĂŒrfen (aber auch zu expliziten Missbilligungen dieser) gekommen. Bei diesem Vorfall kommt es zu Schwerverletzten, als einige Demonstrant*innen versuchen ĂŒber ein GelĂ€nder zu entkommen. Das GelĂ€nder bricht und fĂ€llt mitsamt den darauf befindlichen Demonstrant*innen drei Meter in die Tiefe.
Konfrontationen verschiedener Art gibt es auch bei den anderen Blockadeversuchen. Die Protestierenden laufen gegen Polizeireihen an, die sie stoppen wollen. Polizeiseitig kommt es zu Kesseln und zum Einsatz von Gewalt. In einigen FĂ€llen reicht dies nicht, die Demonstrierenden zu stoppen, und Blockierer*innen ,umflieĂenâ erfolgreich die Beamt*innen. In Konfrontationssituationen können parlamentarische Beobachter*innen und Mitglieder des Anwaltlichen Notdienstes nach eigenen Angaben jedoch immer wieder auch zur Beruhigung beider Seiten beitragen, vermitteln und Kommunikation etablieren.
Ebenfalls am Vormittag gehen nach Veranstalter*innenangaben 2.000 SchĂŒler*innen und Studierende auf die StraĂe. Sie folgen dem Aufruf eines kapitalistismuskritischen Netzwerks aus JugendrĂ€ten, Antifa- und Gewerkschaftsgruppen, das sich fĂŒr selbstbestimmtes Lernen einsetzt.
Derweil wird 32 der ĂŒber 5.000 fĂŒr den Gipfel zugelassenen Journalist*innen nach einer âNeubewertung der Sicherheitslageâ die Akkreditierung entzogen. Betroffen sind vor allem linke Medien, aber auch Mitarbeiter*innen des Spiegel und des Bremer Weser-Kurier. Wie sich spĂ€ter herausstellt, lagen dem Vorgehen teilweise Falschinformationen,[8] Jahre zurĂŒckliegende politische BetĂ€tigungen der Betroffenen oder unrechtmĂ€Ăig gespeicherte Daten zugrunde.[9]
Am Nachmittag sammeln sich verschiedene Protestgruppen am Millerntorplatz. Attac, die Blockierer*innen und die Demonstrierenden des Bildungsstreiks vereinen sich, um die Anfahrt der StaatsgÀste zu einem Konzert in der Elbphilharmonie zu stören. Auf dem Spielplan steht Beethovens Neunte Sinfonie inklusive der Europahymne.
Besonders an den LandungsbrĂŒcken aber auch nördlich der Elbphilharmonie und in St. Pauli kommt es zu teils heftigen ZusammenstöĂen, bei denen sich das Gewaltniveau erhöht und Unbeteiligte, SanitĂ€ter*innen und Journalist*innen in Mitleidenschaft gezogen werden. Es gibt auch schwere Angriffe auf Polizist*innen. Attac-Aktivist*innen können in der unĂŒbersichtlichen Situation bis auf wenige Meter vor die Elbphilharmonie vordringen. Unterdessen gibt es auch Protestaktionen zu Wasser. Der Segler âBeluga IIâ, die Barkasse âOlgaâ und das ehemalige Polizeiboot âGothmundâ beschĂ€ftigen die Wasserpolizei, die nicht verhindern kann, dass einige Aktivist*innen in die GewĂ€sser der âgelbenâ Sperrzone springen. Die Wasserschutzpolizei nimmt die âBeluga IIâ mit Wasserkanonen ins Visier.
An Land zerstreut die Polizei spĂ€ter das heterogen zusammengesetzte Spektrum der Protestierenden mit einer âSprint-RĂ€umungâ. Die ZusammenstöĂe bewegen sich daraufhin in Richtung Schanzenviertel. Dort sammeln sich immer mehr Menschen â Demonstrierende und stadtteiltypisches Publikum. Sie strömen in diese Richtung, weil viele Wege nach Osten abgeschottet sind, aber auch weil sie die Blockaden des Vormittags feiern oder sich verpflegen und ausruhen wollen. Das Schanzenviertel ersetzt in den Protesttagen auch den sozialen Ort, den die Protestcamps hĂ€tten bieten können. Es ist zugleich der Ort an dem in der Vergangenheit nach Demonstrationen wiederholt Konfrontationen zwischen Polizei und unter anderem Autonomen stattfanden.
Zu diesen kommt es am Freitag ab dem frĂŒhen Abend, zunĂ€chst ausgelöst durch einzelne SteinwĂŒrfe und kleinere Feuer sowie Interventionen der BFE-Einheiten. In der sich dabei entwickelnden aggressiven Stimmung werden immer gröĂere Teile des sich stetig vermehrenden Publikums ins Geschehen rund um das Schulterblatt verwickelt. Gleichzeitig gehen organisierte Gruppen dazu ĂŒber, groĂe Barrikaden und Feuer zu errichten. Es kommt schlieĂlich zu PlĂŒnderungen mehrerer GeschĂ€fte und SupermĂ€rkte.
FĂŒr viele Anwohner*innen ist der Riot Ă€uĂerst beĂ€ngstigend. Ăber Stunden bringt die Polizei die Lage nicht unter Kontrolle. Sie vermutet Hinterhalte und so wollen bayrische Einheiten die Sternschanze nicht betreten.
Dies fĂŒhrt im weiteren Verlauf zum Einsatz von schwer bewaffneten, fĂŒr AntiterroreinsĂ€tze ausgebildeten SpezialeinsatzkrĂ€ften, die insbesondere das Haus Schulterblatt 1 rĂ€umen. Laut Polizeimeldungen seien von dort Molotowcocktails geworfen worden und der Bewurf mit Steinplatten drohe. Beide Behauptungen erwiesen sich im Nachhinein als nicht belegt, zeigen aber, in welchem Bedrohungsszenario sich die Polizei selbst verortete. Anwesende und besonders Protestierende zeigen sich schockiert von Art und AusmaĂ der eingesetzten polizeilichen Mittel. Die SpezialeinsatzkrĂ€fte (SEK) hĂ€tten mit ihren automatischen Gewehren schieĂen können; Schussfreigabe bestand. Anwesende Journalist*innen werden aggressiv an der Arbeit gehindert.[10]
Die Szenerie ist insgesamt Ă€uĂerst unĂŒbersichtlich. Ăber die LegitimitĂ€t bestimmter Aktionsformen kommt es nach Berichten gelegentlich auch zu Auseinandersetzungen zwischen Gruppen von Beteiligten und mit Anwohner*innen. Auch fĂŒr Teile der Autonomen ist die scheinbare WillkĂŒr und das Niveau der Ausschreitungen nicht mehr tragbar. Berichten zufolge löschen einige von ihnen auch Feuer an HĂ€usern oder bremsen andere bei deren Aktionen.
Samstag, 8. Juli
Nach den schweren Ausschreitungen und dem bis in die Morgenstunden dauernden SEK-Einsatz der Nacht erscheint der Samstagmorgen als ein Moment der relativen Ruhe. Wenig ruhig beginnt der Tag allerdings fĂŒr die ca. 1.000 Camper*innen im Protestcamp Altona. Ein GroĂaufgebot der Polizei fĂŒhrt hier ab 6 Uhr morgens eine GroĂrazzia durch, bei der die Personalien von vielen Protestierenden festgestellt werden. Die Polizei durchsucht auch Zelte und RucksĂ€cke.
Der Samstag ist vor allem der Tag der groĂen BĂŒndnisdemonstration âGlobale SolidaritĂ€t statt G20â. Die Anmelder*innen beklagen, dass sich die Polizei kaum kooperationsbereit gezeigt hatte und ein KooperationsgesprĂ€ch nur auf politischen Druck und erst eine Woche vor der Demonstration zustande kam. Nicht alle können ungehindert teilnehmen. Ein Bus der âSozialistischen Jugend Deutschlands â Die Falkenâ, besetzt mit teils auch minderjĂ€hrigen Mitgliedern weiterer Jugendorganisationen wird auf der Fahrt nach Hamburg von vermummten Polizist*innen angehalten. Die Polizist*innen bringen alle Busreisenden in die Gefangenensammelstelle und halten sie dort mehrere Stunden fest. GrĂŒnde nennen sie nicht, Kontakt zu AnwĂ€lt*innen verweigert die Polizei ebenfalls. Einige Beteiligte berichten von entwĂŒrdigendem Verhalten: EinschĂŒchterungen, Nacktuntersuchungen, eine körperliche Attacke, ToilettengĂ€nge nur unter Beobachtung. Das Verwaltungsgericht Hamburg stuft die MaĂnahme im Nachhinein als rechtswidrig ein, die Polizei entschuldigt sich bei den Betroffenen â ein absolute Ausnahme.[11] Doch die verspĂ€tete Demonstrationsteilnahme der Gruppe beginnt mit GefĂŒhlen groĂer Verunsicherung, Ohnmacht und Wut. Ebenso widerrechtlich wurden 15 Personen verhaftet, die sich durch ihre italienische NationalitĂ€t sowie mitgefĂŒhrte KleidungsstĂŒcke verdĂ€chtig machten und den Tag der GroĂdemo komplett in der Gesa verbringen mussten.[12]
âGrenzenlose SolidaritĂ€t statt G20â ist dann wirklich eine GroĂdemonstration. Womöglich ĂŒber 70.000 Menschen demonstrieren, von denen der gröĂte Teil, teilweise auch kurz entschlossen, aus Hamburg und Umgebung stammt. Die Polizei ist von der GröĂe der Menschenmenge ĂŒberrascht und hĂ€lt ihr vorhandenes GroĂaufgebot stĂ€rker im Hintergrund. Sie begleitet den linksradikalen Block jedoch weitgehend mit dichten Polizeispalieren; viele der Beamt*innen tragen Helme und Sturmhauben. Die Polizei gibt vor allem Brandschutz als Grund an. Doch die Polizei nimmt manche RegelĂŒbertretung (PKK-Fahnen, Pyrotechnik) pragmatisch hin. Auf der Demonstration selbst gibt es nur einen gröĂeren Zwischenfall. Ein vermummter Block am Ende des Zuges sprĂŒht Slogans an die Wand eines BĂŒrokomplexes, wird von der Polizei angegriffen, wehrt sich mit Fahnenstangen und wird zerstreut. Die Anmelder*innen hatten in lĂ€ngeren Verhandlungen mit den beteiligten Antiimperialist*innen kein Einvernehmen ĂŒber die Durchsetzung des allgemeinen Demonstrationskonsenses erzielen können, dem die Handlungen der Gruppe nicht entsprachen.
Bei der Abschlusskundgebung kommt es immer wieder zu aus Demonstrierenden-perspektive unmotiviert erscheinenden polizeilichen Interventionen; BFE-Trupps laufen resolut durch die Menge, ohne allerdings anderweitig aktiv zu werden, und Wasserwerfer fahren vor.
Weitgehend unbeachtet und mit etwa 5.000 Teilnehmenden vergleichsweise schlecht besucht (die Veranstalter*innen hatten zwischen 10.000 und 30.000 Teilnehmer*innen erwartet[13]) war die Demonstration âHamburg zeigt Haltungâ geblieben, die von den in Hamburg regierenden Parteien GrĂŒne und der SPD unterstĂŒtzt wurde.
Am Abend kommt es erneut zu Auseinandersetzungen im Schanzenviertel, die teilweise einem Katz- und Maus-Spiel gleichen. An einigen Stellen brennen Barrikaden und Autos werden beschÀdigt. Die Ausschreitungen erreichen jedoch bei weitem nicht das Ausmaà des Vortages. Die Polizei setzt wieder das SEK ein, zieht es aber schnell wieder ab. Auch ein polizeilicher Warnschuss fÀllt gegen Mitternacht. Vielen Beobachter*innen fÀllt die heterogene Mischung der Anwesenden und Beteiligten auf.
Sonntag, 9. Juli ff.
Am Sonntag klingt die ereignisreiche Woche aus. WĂ€hrend tausende BĂŒrger*innen Hamburgs selbstorganisiert beginnen, die Stadt aufzurĂ€umen und zu reinigen, werden auch die Camps abgebaut.
Es gibt nur noch kleinere Proteste. Eine Demonstration mit etwa 1.500 Teilnehmer*innen fĂŒhrt unter dem Slogan âNobody forgotten, nothing forgivenâ zur Gefangenensammelstelle (Gesa) âNeulandâ. Die VerhĂ€ltnisse in dieser waren schon in den vergangenen Tagen in die Kritik geraten. Der anwaltliche Notdienst beklagt unter anderem, dass Behördenvertreter*innen den Verteidiger*innen die Kontaktaufnahme mit Inhaftierten verweigerten und sie beschimpften. Die in Gewahrsam Genommenen berichten von teils entwĂŒrdigenden Behandlungen. Es kam zu Nacktuntersuchungen nach AnwĂ€lt*innengesprĂ€chen. Die in den Zellen Einsitzenden konnten nicht schlafen, weil Polizist*innen sie zur âLebenkontrolleâ halbstĂŒndlich weckten; sie bekamen nur unzureichende Verpflegung.[14] So berichtet eine Mandantin: âWir erhielten erstmals nach etwa acht Stunden Nahrung, und zwar 36g KnĂ€ckebrot pro Person. ⊠[und] 20g SchmelzkĂ€se. … Das zweite Mal erhielten wir KnĂ€ckebrot erst weitere 12 bis 15 Stunden spĂ€ter.â[15]
Epilog
Die Zeit nach dem Gipfel ist die Zeit einer regen Debatte, die in ihrer Zuspitzung und Polarisierung an die Gipfelereignisse anschlieĂt. Politiker*innen aller in der BĂŒrgerschaft vertretenen Parteien und auch der groĂen DemonstrationsbĂŒndnisse, Attacs und viele mehr verurteilen die Ausschreitungen. Doch die Aufarbeitungsinteressen sind antagonistisch. Protestierende und BĂŒrgerrechtler*innen verurteilen insbesondere die HĂ€rte des polizeilichen Vorgehens und die massive Polizeigewalt wĂ€hrend der Gipfelproteste. Landes- und bundespolitische Stimmen dagegen zeigen sich mehrheitlich entsetzt ĂŒber Gewalt von Protestierenden und stellen sich ostentativ hinter die Polizei. BĂŒrgermeister Scholz lobt deren âheldenhafte TĂ€tigkeitâ und erklĂ€rt apodiktisch und auch deutlich gegen den Erkenntnisstand zu dieser Zeit: âPolizeigewalt hat es nicht gegebenâ (Spiegel 14.7.2017). FĂŒr die eingesetzten Beamt*innen gibt es SolidaritĂ€tskonzerte (unter anderem in der Elbphilharmonie), Sonderurlaub und EinsatzprĂ€mien von bis zu 500 ⏠sowie Fototermine mit Politiker*innen am Krankenbett.[16]
Sogar das Verbot der Annahme von Spenden wird bis zum 31.8.2017 fĂŒr Polizeibeamt*innen in Hamburg aufgehoben (bei termingebundenen Veranstaltungen bis zum 31.12.2017).[17]
Die Politik verspricht den Opfern der Zerstörungen schnelle Hilfe und richtet einen Hilfsfonds im Umfang von 40 Mio ⏠ein, von dem allerdings nur 605.000 ⏠abgerufen werden.[18]
WĂ€hrend aktivistische Medien wie âg20-doku.orgâ mutmaĂliche polizeiliche Ăbergriffe zu dokumentieren beginnen, gibt es vor allem seitens konservativer Politiker*innen rhetorische Breitseiten gegen die âExtremistenâ[19], die als âMordbrennerâ[20] (Martin Schulz, SPD) und âLinksfaschistenâ (Jens Spahn, CDU) bezeichnet werden. Kritisiert wird auch die politische Linke im Allgemeinen, immer wieder kulminierend in der Forderung nach SchlieĂung linker Zentren wie der Roten Flora.[21]
Das bestimmende Thema der massenmedialen Wahrnehmung bleiben die Ausschreitungen: âNach den G20-Tagen verrutschten die MaĂstĂ€be jedoch in GĂ€nze und die zweifelsohne dramatischen Ereignisse der Freitagnacht wurden zum alleinigen Signifikanten. Vergessen war alles zuvor Geschehene, die vielfĂ€ltigen Aktionen sowie das harsche Vorgehen der Polizei.â (Mullis 2018).
In linken Gruppen beginnt eine teils öffentlich ausgetragene Debatte ĂŒber die Gipfelproteste. Dabei geht es um die Bewertung der politischen (Miss-)Erfolge, aber auch um die erlebte und die selbst ausgeĂŒbte Gewalt. Sie pendelt zwischen den Polen der Affirmation der Proteste als âVorboten des kommenden Aufstandsâ[22] und als Hoffnungszeichen dafĂŒr, dass ein radikaler gesellschaftlicher Wandel möglich ist,[23] auf der einen Seite und Kritik an dem AusmaĂ, der Art und den Zielen der sich verselbstĂ€ndigenden Gewalt auf der anderen.[24]
Es melden sich auch Stimmen zu Wort, die sich der Polarisierung der politischen Debatte entziehen und beispielsweise aus Sicht des Erlebens von Anwohner*innen und örtlichen Gewerbetreibenden sowohl Polizei als auch Protestierende fĂŒr die Ereignisse der Woche im Juli kritisieren und sich zugleich gegen undifferenzierte Diffamierungen beispielsweise der Roten Flora positionieren.[25]
Auch wenn die Forderung nach einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss laut wird und Forscher/innen, insbesondere aus der Protestforschung eine unabhĂ€ngige Expert*innenkomission fordern,[26] wird schlieĂlich ein âSonderausschussâ der Hamburgischen BĂŒrgerschaft eingesetzt. Ein solcher hat weniger Rechte als ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss. Die beteiligten Fraktionen haben darin höchst unterschiedliche AufklĂ€rungsinteressen und beklagen teilweise Ă€uĂerst unkooperatives Verhalten der Sicherheitsbehörden, die beispielsweise Akten zurĂŒckhalten und umfĂ€nglich schwĂ€rzen.
Die Polizei richtet eine Sonderkommission mit dem Namen âSchwarzer Blockâ mit etwa 180 Mitarbeiter*innen ein.[27] FĂŒnfzehn Beamt*innen aus dem Dezernat âInterne Ermittlungenâ ermitteln gegen Polizist*innen. Die Soko arbeitet auch mit Hilfe von Software, die mehrere Terrabite Fotos und Videos (darunter zehntausende Einzelfilme und hunderttausende Stunden Videomaterial der Hochbahn) mit Gesichtserkennungsverfahren durchforstet.[28] Einige Verfahren kommen unmittelbar in Gang und die schnellen Urteile gelten als ĂŒberdurchschnittlich hart. Ăber ein Hinweisportal kann die Ăffentlichkeit Bilder und Videos direkt hochladen. Aufsehen und harsche Kritik erregt, dass die Polizei das Mittel der Ăffentlichkeitsfahndung mit Bildern von VerdĂ€chtigen und/oder Zeugen einsetzt. Das Stigmatisierungspotenzial fĂŒr die Betroffenen, denen teilweise nur kleinere Vergehen zur Last gelegt werden, wird deutlich, als Boulevard-Medien die Fahndung aufgreifen. Die âBildâ-Zeitung veröffentlicht beispielsweise groĂformatig das Bild einer MinderjĂ€hrigen, die sie als âKrawall-Barbieâ an den medialen Pranger stellt.
Autonome Gruppen reagieren mit einem halb-ironischen âĂffentlichen Fahndungsaufrufâ in Plakatform, der politisch Verantwortliche und Polizist*innen zur âFahndungâ ausschreibt.
Das Vorgehen der Polizei gegenĂŒber den Camps bleibt in der Debatte und ist Gegenstand einer Reihe von Klagen. Insbesondere das Verbot von Schlafzelten zu Beginn der Protestwoche steht hier zur Debatte. AnwĂ€lt*innen der Camps in Entenwerder und Altona werfen der Polizei Rechtsbruch vor. Im Zuge dieser Verfahren erhoffen die AnwĂ€lt*innen nicht zuletzt eine rechtliche und politische Anerkennung von Protestcamps als in ihrer GĂ€nze durch das Grundgesetz geschĂŒtzte politische Versammlungen.
Literatur
Mullis, D., 2018: G20 in Hamburg. Politik, Unvernehmen, Ausnahmezustand und das Ende der Postdemokratie. s u b \ u r b a n. zeitschrift fĂŒr kritische stadtforschung 6: 29â50.
Döhner, Y., 2018: Riots und Nachbarschaftsorganisierung. In: Dellwo et al. (Hrsg.), Riot. Was war da los in Hamburg. Theorie und Praxis der der kollektiven Aktion, Hamburg: Laika.
Endnoten
[3] Der Spiegel vermeldet sogar Informationen aus âSicherheitskreise[n]â, nach denen â10.000 gewaltbereite Demonstrantenâ erwartet werden. Spiegel, 1.7.2017.
[6] Selbstbeschreibung, 6.7.2017.
[9] Tagesschau, 19.10.2017 & Spiegel, 30.8.2017.
[10] Nur ein Beispiel: Youtube.
[11] NDR, 23.9.2017 & NDR, 30.7.2017.
[14] Erinnerungsberichte sind unter anderem im RAV-Informationsbrief Nr. 114/2017 dokumentiert.
[15] RAV-Informationsbrief #114, 2017: âG20-Gipfel in Hamburgâ, S. 31.
[16] Vionville Blogspot, 14.7.2017.
[17] Baustian, V., 2017: âSpenden an die Polizei ⊠ausnahmsweise erlaubt!â, Hamburger Polizei Journal, Juli 2017, S. 35.
[19] âSie sind verachtenswerte gewalttĂ€tige Extremisten, genauso wie Neonazis das sind und islamistische Terroristen.â, Bundesinnenminister de Maiziere, Spiegel, 10.7.2017.
[20] âDass Mordbrenner aus ganz Europa hier den Kiez terrorisiert haben, war furchtbar und ihnen mĂŒssen wir das Handwerk legen.â, SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz auf Facebook, 13.7.2017
[21] âSo etwas wie die Rote Flora, besetzte HĂ€user in Berlin und so etwas, was es in Connewitz in Leipzig gibt, kann man nicht hinnehmen. Wenn das einmal eingerissen ist, ist das nicht so leicht wieder zu lösen.â, Bundesinnenminister de MaiziĂšre, WestfĂ€lische Rundschau, 11.7.2017
[22] So, selbst aus distanzierter Perspektive, Andreas Blechschmidt in ak Nr. 639, 19.6.2018, S. 27.
[23] âAls Kulisse dieser Ăberlegungen lodern noch die Barrikaden im Hamburger Schanzenviertel: Duft der Freiheit, rauschhafte GrenzĂŒberschreitung, polizeilicher Kontrollverlust. Augenblicke, im Aufbegehren gegen den G20-Gipfel nicht enden wollende Momente, die eine andere Welt sinnlich spĂŒrbar machenâ (Döhner 2018).
[24] “Wir haben den Eindruck gehabt, dass sich hier etwas verselbststĂ€ndigt hat und dass hier eine Form der Militanz auf die StraĂen getragen wurde, die sich an sich selbst berauscht hat. Und das finden wir politisch und inhaltlich falsch.â, Andreas Blechschmidt (Sprecher der Roten Flora), Tagesschau, 8.7.2017
[25] Unter anderem in der Stellungnahme einiger Gewerbetreibender aus dem Schanzenviertel, Facebook, 12.7.2017, taz, 21.7.2017,MOPO, 20.7.2017 und bei einer Stadtteilversammlung, vgl. welt.de, 21.7.2017.
[26] protestinstitut.eu, 18.7.2017.