Von Peter Ullrich, Philipp Knopp und Fabian Frenzel
ABSTRACT
Die Chronologie stellt die Ereignisse der Protestwoche im Zeitverlauf zusammen und gibt einen Überblick über das Geschehen vom 2.-9.7.2017 in Hamburg. Ein Prolog und ein Epilog beleuchten zudem konzise Vorlauf und Nachwirkungen. Titelbild: Rasande Tyskar (cc-by-nc via Flickr) |
Prolog: Hamburg auf dem Weg zum Gipfel
Im Jahr 2015 fällt die Entscheidung, das Treffen der „Gruppe der 20“, das nach seiner Selbstbeschreibung „führende Forum der weltweit wichtigsten Ökonomien“ in Deutschland auszurichten. Im Februar 2016 wird dann von der Bundeskanzlerin Angela Merkel Hamburg als Austragungsort bekanntgegeben. Dies bietet nach der gescheiterten Olympiabewerbung eine neue Gelegenheit für die Hansestadt sich in der internationalen Städtekonkurrenz zu präsentieren. Auch logistische Gründe spielen eine Rolle. Nur wenige deutsche Großstädte bieten ausreichende Infrastruktur und Hotelbetten für die 36 Delegationen mit ihren ca. 6.500 Mitgliedern, die tausenden Medienvertreter*innen[1] und die schließlich eingesetzten über 30.000 Polizist*innen.
Kritik am Treffen kommt von Bewohner*innen der Stadt, die befürchten, von Sicherheitsmaßnahmen oder drohenden Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und Polizei in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Eine Mehrheit der Hamburger*innen lehnt, wie eine spätere Umfrage zeigt, den Gipfel in ihrer Stadt ab.[2]
Bald regt sich auch politischer Widerstand gegen den Gipfel und seine Teilnehmer*innen, denen von Kritiker*innen nicht nur fehlende Legitimität, sondern Verantwortung für Missstände der kapitalistischen Welt wie Armut, Krieg und Umweltzerstörung vorgeworfen wird. Die Beteiligung autoritärer und diktatorischer Staatschefs (unter anderem Donald Trump, Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan) verstärkt die Empörung. Die Protestgruppen organisieren sich in verschiedenen Bündnissen ab dem Frühsommer 2016 und planen Gegenveranstaltungen in der Trias Großdemonstration, Gegengipfel und ziviler Ungehorsam.
Diese koordinieren sich zum Teil in der „G20-Plattform“. Schon früh zeigt sich, dass es durchaus unterschiedliche politische Inhalte, Protestziele, Vorstellungen vom Erscheinungsbild und – eng damit verbunden – präferierte Mittel des Protests gibt. Es wird unter anderem um Formulierungen zur Abgrenzung von Gewalt gerungen. Letztlich kommt es zu einer Spaltung im Protestspektrum. Etablierte zivilgesellschaftliche und Nichtregierungsorganisationen, die eher kritisch an die Lösungskompetenz der G20 appellieren wollen, planen deshalb eine eigene, von den sonstigen Bündnissen getrennte, Demonstration („Protestwelle“) vor dem Gipfel. Neben zwei die Woche rahmenden, großen Protestzügen werden noch über 100 weitere Versammlungen mit verschiedensten Anliegen und von unterschiedlichsten Organisator*innen angemeldet.
Die Themen Gewalt und Sicherheit, die schon die Bündnisgespräche mit prägten, stehen auch im Zentrum der polizeilichen Sicht auf das Großereignis. In den Monaten vor dem Gipfel hatte es nach Polizeiangaben über 100 Brandanschläge mit Gipfelbezug gegeben; stetig steigt auch die Zahl der von der Polizei erwarteten „gewaltbereiten Störer“ an, um zu Beginn der Protestwoche am 2. Juli die 8.000er Marke zu erreichen.[3] Doch auch eine abstrakte Terrorgefahr und die Anwesenheit verschiedenster Sicherheitsdienste der anreisenden Staatsgäste gehen in die Risikobewertung ein. Dieser komplexen Herausforderung plant die Polizei vor allem mit einer massiven Demonstration von Stärke zu begegnen. Um die Sicherheit der Staatsgäste und den reibungslosen Gipfelablauf zu garantieren – diesem Ziel wird im Einsatzrahmenbefehl höchste Priorität eingeräumt – wird auf von anderen Gipfeln dieser Art bekannte Mittel zurückgegriffen – darunter die Einrichtung von polizeilichen Sonderrechtszonen.[4] Die in einer Allgemeinverfügung[5] ausgewiesenen sogenannten Transferkorridore zwischen dem Flughafen, den verschiedenen Gipfelorten wie den Messehallen und der Elbphilharmonie sowie den Hotels der Staatsgäste umfassen ein circa 38 km² großes Areal.
Aus Sicht der Demonstrierenden handelt es sich dabei um eine „demokratiefreie Zone“. Versammlungen sind innerhalb des Gebiets, das einen Großteil der Innenstadt und angrenzende Bereiche zwischen Elbe im Süden und Flughafen im Norden umfasst, grundsätzlich nicht gestattet. Auch die geplanten Protestcamps werden von den Sicherheitsbehörden im Einklang mit einer schon Monate vorher beschlossenen Haltung weitgehend behindert und nicht als grundgesetzlich geschützte Versammlungen anerkannt, sondern vor allem als ,Rückzugsorte für Gewalttäter‘ begriffen. Der Rechtsstreit, unter anderem um die Frage, ob Protestcamps dem Schutz des Versammlungsrecht unterliegen, geht bis zum Bundesverfassungsgericht. Wo die anreisenden Demonstrierenden unterkommen sollen, steht zu Beginn der Protestwoche weiter in den Sternen. Diese konflikthafte Konstellation am Vorabend des G20-Gipfels prägt auch die weitere Entwicklung.
Sonntag, 2. Juli
Die erste Demonstration „Protestwelle“ fällt kleiner aus als erwartet. In einem Demonstrationszug in der Innenstadt und auf Booten auf der Binnenalster demonstrieren einige tausend Menschen (8000 lt. Polizei, 25.000 lt. Veranstalter*innen). Auch ein großer „schwarzer Block“ ist zugegen – in Form eines überdimensionalen schwarzen Luftkissens, mit dem Protestierende die Diskussion um Gewalt persiflieren.
Für Aufsehen sorgt weiter der Streit um die Camps. Der Aufbau des am 1. Juli vom Verwaltungsgericht Hamburg erlaubten Camps mit Schlafzelten im Elbpark Entenwerder wird von der Polizei trotz Gerichtsbeschluss weiter behindert. Zur Abschlusskundgebung der Protestwelle gibt es deswegen eine Protestaktion mit Wurfzelten; Aktivist*innen errichten spontan ein symbolisches Camp auf dem Rathausmarkt.
Die Polizei löst die Sitzblockade der Initiative „Camps für alle“ auf. Dabei setzt sie Zwangsmittel gegen die Protestierenden ein. Am Abend umstellen Polizeikräfte das Camp Entenwerder und beschlagnahmen Schlafzelte. Mehrere Demonstrant*innen werden verletzt, eine Person schwer. Für die Organisator*innen und andere Demonstrierende bestätigt das Vorgehen gegen das Camp ihre Befürchtung, dass die Polizei über die gesamte Woche protestfeindlich agieren werde. In der Auseinandersetzung um die Camps etabliert sich eine neue Konfliktebene ohne direkten Bezug zum G20-Gipfel. Die Polizei wird aus Sicht der Protestierenden selbst zum politischen Konfliktgegner, was die weiteren Geschehnisse gravierend beeinflusst. Aus Solidarität mit dem Antikapitalistischen Camp sagen die Anmelder*innen der für Donnerstag (6.7.2017) geplanten „Welcome to Hell“-Demonstration ein letztes Kooperationsgespräch ab, das auf ihren eigenen Wunsch am 3. Juli hätte stattfinden sollen. „Yes, we camp“ etabliert sich als neuer Slogan der Proteste. Schlafzelte werden zu politischen Symbolen für die neue Konfliktdimension, in der es den Protestierenden ganz grundsätzlich um die Möglichkeit der Ausübung ihres Grundrechts auf Versammlungsfreiheit geht, die sie durch die Verhinderungsstrategie der Polizei bedroht sehen.
In Erwartung des Kommenden beginnen Unternehmen damit, ihre Schaufenster zu verbarrikadieren oder hängen an die Läden im Schanzenviertel ausgeteilte Plakate auf, in denen sie sich mit dem Anliegen des Protests solidarisieren und um Schonung ihrer Geschäfte bitten. Die Motivlagen sind divers. Doch die explizite Kritik am G20-Gipfel, auch in vielfältig improvisierten Formen, ist im Stadtraum omnipräsent.
Montag, 3. Juli
Am Montag werden sowohl im Volkspark Altona und in Entenwerder die Camps weiter aufgebaut. Grundlage ist die nunmehr auch von der Polizei anerkannte Rechtslage, nach der Camps durch das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit geschützt sind. Allerdings besteht die Polizei weiterhin auf ihrer erst am 5. Juli endgültig vom OVG zurückgewiesenen Interpretation, dass dieser Schutz sich nicht auf Schlaf und Versorgungszelte beziehe. Diese bleiben damit am Montag und Dienstag in beiden Camps faktisch verboten und die Polizei kontrolliert die Aufbauarbeiten streng. In Entenwerder berichten die Aufbauhelfer*innen von Schikanen, Durchsuchungen und Beschlagnahmungen. Auch Journalist*innen, die das Camp besuchen, werden Durchsuchungen unterzogen.
In Altona gibt es am Camp skurril anmutende Szenen, in denen Protestierende Schlafsäcke und Essen an der Polizei vorbei schmuggeln. An einer Stelle werfen Aktivist*innen einzelne Kartoffeln über die Polizeireihen in das Camp. Einsatzführer*innen vor Ort stellen den Demonstrierenden gegenüber die Polizeistrategie in Frage.
Dienstag, 4. Juli
Die Vollversammlung des Antikapitalistischen Camps in Entenwerder entscheidet sich angesichts der fortdauernden Behinderungen für die Aufgabe. Sie ruft stattdessen zur Errichtung wilder Camps in der ganzen Stadt auf. Einrichtungen öffnen ihre Türen, darunter das Millerntorstadion des FC St. Pauli, Kirchen und das Hamburger Schauspielhaus. Abseits des Blicks der Öffentlichkeit organisieren Initiativen wie „Schlaflos in Hamburg“ Schlafplätze für Neuankommende. Die Campverbote werden zum Stadtgespräch; Hamburger*innen bieten auch privat Schlafgelegenheiten. Das Antikapitalistische Camp veröffentlicht ein Abschlussstatement mit dem Aufruf „Wir sehen uns in der Innenstadt!“. Nach der Aufgabe des Camps verlagert sich das Konfliktgeschehen in die westlichen Innenstadtbereiche.
„Attac“ organisiert mit dem Fernsehkoch Ole Plogstedt als Anmelder eine spontane Protestaktion gegen die Campverbote, ein „Sleep in“ im Volkspark Altona beim dortigen Protestcamp. Unter dem Titel „Wir zeigen Haltung für Demokratie“ findet in der Innenstadt eine improvisierte Pressekonferenz mit Repräsentant*innen aus der ganzen Breite des Protestspektrums sowie mit Vertreter*innen von Gewerkschaften, Kirchen, Parteien und Kulturschaffenden statt. Absehend von sonstigen Differenzen rufen sie den Senat auf, sich aktiv für die Ermöglichung von Protest einzusetzen, die Gerichtsentscheidungen zu akzeptieren und das Versammlungsrecht ernst zu nehmen – inklusive der Möglichkeit, sich in Protestcamps auszutauschen und zu erholen. Am Nachmittag kommt es zu zahlreichen Polizeieinsätzen gegen spontan errichtete Camps, vor allem in St. Pauli.
Auch am Nachmittag führt das alternative Medienzentrum FCMC die erste seiner fortan täglich stattfindenden Pressekonferenz durch, um von geplanten Aktionen der nächsten Tage zu berichten.
Abends findet das „hedonistische Massencornern“ oder „Hard Cornern“ statt. Tausende versammeln sich friedlich mit Infoständen, Musik oder schlicht zum Gespräch und Getränk ,an der Ecke‘ – aber im Zeichen des G20-Protests. Ungeachtet des friedlichen Verlaufs der Veranstaltung räumt die Polizei später die Straße im Bereich Neuer Pferdemarkt mit Wasserwerfern, was bei den Anwesenden Empörung produziert.
Mittwoch, 5. Juli
Der „Gipfel für globale Solidarität“, organisiert von ca. 70 politischen Gruppen, Bildungsträger*innen und NGOs beginnt in der Kulturfabrik Kampnagel. Nach Veranstalter*innenangaben diskutieren auf dem Gegengipfel über 2.000 Menschen in 11 Podien und über 70 Workshops ihre Kritik an der Krise und ihre Ideen für eine gerechtere Welt. Der Gipfel wird mit einer Rede von Vandana Shiva eröffnet, einer globalisierungskritischen Wissenschaftlerin aus Indien.
Zur Mittagszeit führen Künstler*innen die Performance „1000 Gestalten“ durch. Wie Zombies ziehen diese ganz in Grau gekleidet und vollständig mit Lehm überzogen in einem langsamen Zug zum Burchardplatz. Erst nach einer quälend langen Zeit beginnen sich die Gestalten, erst vereinzelt, dann immer mehr und immer fröhlicher von ihren grauen Hüllen zu befreien. Aus den trist-grauen werden fröhlich-bunte Gestalten. „Die 1000 GESTALTEN sollen eine Gesellschaft verkörpern, der das Gefühl dafür abhanden gekommen ist, dass auch eine andere Welt möglich ist.“ beschreiben die Künstler*innen ihr Anliegen.[6]
Auch weitere Demonstrationen stehen auf der Tagesordnung. Ab dem frühen Abend zieht die Nachttanzdemo „Lieber tanz ich als G20!“ als Rave durch St. Pauli und die Sternschanze. Die Polizei zählt 11.000, die Veranstalter*innen um die 20.000 Protestierende, die zu Musik von Lastwagen tanzend demonstrieren. Neben den kapitalismuskritischen Grundanliegen wird mit vielen Plakaten auf die Campproblematik Bezug genommen. Die Polizei fährt Wasserwerfer auf – Bilder die fortan neben dem Sound der Hubschrauber zum Dauereindruck für Hamburger*innen und angereiste Protestierende werden. Sie hält sich jedoch weitgehend zurück und die Veranstaltung verläuft bis zur Auflösung ohne Zwischenfälle. Überraschend treten die Hamburger Rapper „Die absoluten Beginner“ und Samy Deluxe auf.
Das Oberverwaltungsgericht hat inzwischen entschieden, dass die Polizei in Camps auch Schlaf- und Versorgungszelte erlauben muss. Im Protestcamp Altona werden daraufhin durch die Versammlungsbehörde 300 Schlafzelte genehmigt, weit weniger als von den Organisator*innen erhofft und benötigt. Dennoch feiern die Demonstrierenden den Sieg. Aktivist*innen aus dem am Nachmittag eintreffenden Sonderzug ziehen in das Camp ein. Das Camp ist nun mit circa 1.000 Protestierenden das größte neben einer Reihe von kleinen Camps, die sich auf privaten Grundstücken gebildet haben.
Donnerstag, 6. Juli
Tag zwei des „Gipfels für globale Solidarität“. Nach vielen weiteren Workshops diskutiert die Abschlussveranstaltung eine neue Internationale der globalen Solidarität und Strategien gegen die Neue Rechte. Die Delegationen der Gipfelteilnehmer*innen reisen an. Der Transfer vom Flughafen in die Messe und die verschiedenen Hotels wird bis spät in die Nacht dauern.
Im Rückblick steht der Tag allerdings vor allem im Zeichen der antkapitalistischen und herrschaftskritischen Demonstration „Welcome to Hell“. Diese versammelt sich am Nachmittag zur Auftaktkundgebung. Bei gutem Wetter und ebensolcher Stimmung füllt sich der Fischmarkt. Zu der Demonstration mit dem vieldeutigen Titel erwartet die Polizei 7.000-8.000 gewaltbereite Autonome. Im Nachhinein spricht sie jedoch nur von 1.000 gewaltbereiten neben 9.000 friedlichen Demonstrierenden.[7]
Der Demonstrationszug wird nach der Auftaktkundgebung von mehreren Einsatzhundertschaften und Wasserwerfern gestoppt. Umgeben von Schaulustigen stehen sich Polizei und Demonstrierende gegenüber. Die Polizei fordert die Protestierenden (darunter auch mindestens vier Polizist*innen), die an der Spitze und in der Mitte des Zuges jeweils einen schwarzen Block bilden, dazu auf, ihre Vermummung in Form von Sonnenbrillen, Tüchern und Kopfbedeckungen abzunehmen. Tatsächlich nehmen viele im vorderen Bereich der Demonstration die Vermummung ab. Noch während der Verhandlungen zwischen Anmelder*innen und Einsatzleitung separieren Polizist*innen den ersten Teil der Demonstration. Kurz darauf dringen erneut Polizeieinheiten mit massivem Gewalteinsatz seitlich in die Demonstration ein. Über das Ausmaß der noch bestehenden Vermummung gibt es unterschiedliche Einschätzungen.
„Mehrere NDR Reporter vor Ort berichten übereinstimmend, dass von den Demonstranten zunächst keine Gewalt ausgegangen sei. Allerdings haben tatsächlich viele Mitglieder des „schwarzen Blocks“ ihre Vermummung nicht abgelegt. Zuvor soll es Absprachen zwischen Polizei und Demo-Veranstaltern gegeben haben, wie viel Vermummung für die Polizei hinnehmbar ist. Offenbar konnte man sich bei diesen Gesprächen nicht einigen. Dann gab es offenbar einen einzelnen Flaschenwurf eines anscheinend angetrunkenen Mannes, den Demonstrationsteilnehmer selbst von der Menge isolierten. Offenbar gab es auch im “schwarzen Block” Ansagen, keine Gegenstände auf die Polizei zu werfen und eine Eskalation zu vermeiden.” — NDR.DE, G20 Liveblog, 6.7.2017 |
Die Abtrennung der Vermummten vom Rest des Zuges misslingt, stattdessen bricht Panik aus. Viele der Demonstrierenden versuchen über die Hafenmauer zu entkommen. Aus verschiedenen Richtungen werden Gegenstände auf die Polizist*innen geworfen. Mit hohem Gewalteinsatz wird die Demonstration letztlich zerstreut. Auf dem Fischmarkt und in der Hafenstraße laufen Polizeieinheiten umher und versuchen Personen festzunehmen. In der Neuen Bergstraße und der Holstenstraße kommt es zu schweren Sachbeschädigungen durch verstreute militante Gruppen. An verschiedenen Orten werden Polizist*innen angegriffen. Obwohl die Situation weiter angespannt ist, stellen sich an der Reeperbahn und in der Hafenstraße Nachfolgedemonstrationen auf. Beide vereinen sich später. Auch im Kontext dieser Demonstrationen kommt es am späteren Abend im Schanzenviertel zu teils massiven Konfrontationen zwischen Protestierenden und Polizei. Die Polizei löst die Demonstration daraufhin gewaltsam auf und räumt zum ersten Mal in der Protestwoche das Schulterblatt.
Für alle Seiten ist die Auflösung der „Welcome to Hell“-Demonstration ein Wendepunkt im Geschehen. Auf Seiten der Veranstalter*innen und ihres politischen Umfeldes sowie kritischer Beobachter*innen wurde und wird spekuliert, ob die Auflösung an dieser Stelle ohnehin geplant war, also ein Ankommen der Demonstration am Zielort nahe den Messehallen polizeilich nie vorgesehen war. Grund für diese Spekulationen ist vor allem, dass die Demonstration von der Versammlungsbehörde nicht mit Auflagen belegt worden war. Das ist ungewöhnlich, vor allem bei dem hohen ihr zuvor zugeschriebenen Gefahrenpotenzial.
Sowohl Demonstrationsteilnehmer*innen als auch ranghohe Polizeibeamt*innen zeigen sich schockiert vom Gewaltniveau des jeweiligen Gegenübers. Während die Einsatzführung einen derart massiven Bewurf durch Umstehende nicht erwartet habe, sprechen Protestierende vom Verlust der bisherigen Gewissheit, dass es bei Protesten in Deutschland ,keiner auf der Straße liegen bleibt‘. Auf beiden Seiten wird das Erleben und die jeweilige Deutung dieser Situation fortan im Zentrum der Konfliktkonstellation stehen, die sich immer mehr polarisiert. Auch die mediale Berichterstattung wandelt sich zunehmend: während es bis zu diesem Zeitpunkt durchaus unterschiedliche Sichtweisen auf das Geschehen gab, steht in den meisten Medien bald nur noch ,Gewalt‘ im Zentrum der Berichterstattung, und zwar im Wesentlichen die der Protestierenden.
Der schwelende Konflikt zwischen der protestfeindlichen polizeilichen Linie und den Protestierenden, der in den vergangenen Tagen immer wieder auch von Momenten der Deeskalation und des erfolgreichen, ungehinderten Protests unterbrochen wurde, schlägt nun endgültig in physische Konfrontation um. Das protestaffine Spektrum solidarisiert sich untereinander ebenso wie das ordnungspolitische Lager. Die politische Debatte ist geprägt von Entrüstung und Polarisierung.
Freitag, 7. Juli
Das G20-Gipfeltreffen selbst beginnt. Auf der Agenda stehen Fragen des Welthandels, Terrorismus, die Klimapolitik nach dem Ausstieg der USA aus dem Pariser Übereinkommen und die Situation Afrikas.
Bei vielen Protestierenden sitzt der Schock angesichts der Ereignisse des Vortags noch tief. Anmelder*innen von Versammlungen überlegen Demonstrationen abzusagen, weil sie um die Unversehrtheit der Teilnehmenden fürchten. Über vierzig Versammlungen und Kunstaktionen, die die Politik der G20 kritisieren, finden jedoch an diesem Tag statt.
Das erste aufsehenerregende Ereignis des Morgens: Eine Gruppe schwarz Gekleideter zieht durch die Elbchaussee in Hamburg-Altona, setzt fast 20 Autos in Brand, errichtet Barrikaden, zerstört Schaufensterscheiben. Auf Höhe der Großen Bergstraße teilt sich der Zug. Ein Teil greift Polizeifahrzeuge vor der Bundespolizei-Wache Altona an, während andere in die Große Bergstraße ziehen. Dort werden Brandsätze vor einem IKEA-Markt gezündet.
Derweil beginnen rund um die Sonderrechtszone Protestaktionen mit dem Ziel der Blockade von Protokollrouten, auf denen die Konvois der Staatsgäste zum Messegelände fahren. Das Bündnis „Block G20“ will die ,rote Zone‘’ bunt färben: Ihre Proteste nennen sie „Colour the red zone“. Gemäß verabredetem Aktionskonsens soll keine gewalttätige Eskalation provoziert, aber mittels entschlossenem ziviler Ungehorsam der Gipfel blockiert werden. Vier nach Farben unterschiedene Demonstrationsfinger versammeln sich, um sich dem Veranstaltungsort aus mehreren Richtungen zu nähern, polizeiliche Absperrungen zu umgehen oder zu „durchfließen“. Einzelne Termine im Gipfelprogramm werden so tatsächlich beeinträchtigt. Einsatzleiter Hartmut Dudde entscheidet sich, die Bundesreserve zu alarmieren; rund 1.000 weitere Bereitschaftspolizist*innen werden umgehend nach Hamburg entsandt.
Die vor allem vom internationalen linksradikalen Bündnis „Beyond Europe“ getragene Blockadeaktion im Hafen unter dem Titel „Shut down the logistics of capital“ verläuft – obwohl auch sie in der polizeilichen Gefahrenprognose prominent Erwähnung findet – konfrontationsfrei. Mit dem Hafen soll ein wichtiger „Knotenpunkt“ der Infrastruktur des Kapitalismus blockiert werden.
Zu Konfrontationen kommt es stattdessen bei den Aktionen der verschiedenen Blockadefinger um die und innerhalb der Sonderrechtszone. Ein unangekündigter Demonstrationszug bricht morgens vom Camp am Volksparkstadion auf und wird in der Straße Rondenbarg von der Polizei gewaltsam gestoppt. Zuvor war es aus dem heterogen zusammengesetzten Zug heraus zu Sachbeschädigungen und Steinwürfen (aber auch zu expliziten Missbilligungen dieser) gekommen. Bei diesem Vorfall kommt es zu Schwerverletzten, als einige Demonstrant*innen versuchen über ein Geländer zu entkommen. Das Geländer bricht und fällt mitsamt den darauf befindlichen Demonstrant*innen drei Meter in die Tiefe.
Konfrontationen verschiedener Art gibt es auch bei den anderen Blockadeversuchen. Die Protestierenden laufen gegen Polizeireihen an, die sie stoppen wollen. Polizeiseitig kommt es zu Kesseln und zum Einsatz von Gewalt. In einigen Fällen reicht dies nicht, die Demonstrierenden zu stoppen, und Blockierer*innen ,umfließen‘ erfolgreich die Beamt*innen. In Konfrontationssituationen können parlamentarische Beobachter*innen und Mitglieder des Anwaltlichen Notdienstes nach eigenen Angaben jedoch immer wieder auch zur Beruhigung beider Seiten beitragen, vermitteln und Kommunikation etablieren.
Ebenfalls am Vormittag gehen nach Veranstalter*innenangaben 2.000 Schüler*innen und Studierende auf die Straße. Sie folgen dem Aufruf eines kapitalistismuskritischen Netzwerks aus Jugendräten, Antifa- und Gewerkschaftsgruppen, das sich für selbstbestimmtes Lernen einsetzt.
Derweil wird 32 der über 5.000 für den Gipfel zugelassenen Journalist*innen nach einer „Neubewertung der Sicherheitslage“ die Akkreditierung entzogen. Betroffen sind vor allem linke Medien, aber auch Mitarbeiter*innen des Spiegel und des Bremer Weser-Kurier. Wie sich später herausstellt, lagen dem Vorgehen teilweise Falschinformationen,[8] Jahre zurückliegende politische Betätigungen der Betroffenen oder unrechtmäßig gespeicherte Daten zugrunde.[9]
Am Nachmittag sammeln sich verschiedene Protestgruppen am Millerntorplatz. Attac, die Blockierer*innen und die Demonstrierenden des Bildungsstreiks vereinen sich, um die Anfahrt der Staatsgäste zu einem Konzert in der Elbphilharmonie zu stören. Auf dem Spielplan steht Beethovens Neunte Sinfonie inklusive der Europahymne.
Besonders an den Landungsbrücken aber auch nördlich der Elbphilharmonie und in St. Pauli kommt es zu teils heftigen Zusammenstößen, bei denen sich das Gewaltniveau erhöht und Unbeteiligte, Sanitäter*innen und Journalist*innen in Mitleidenschaft gezogen werden. Es gibt auch schwere Angriffe auf Polizist*innen. Attac-Aktivist*innen können in der unübersichtlichen Situation bis auf wenige Meter vor die Elbphilharmonie vordringen. Unterdessen gibt es auch Protestaktionen zu Wasser. Der Segler “Beluga II”, die Barkasse “Olga” und das ehemalige Polizeiboot “Gothmund” beschäftigen die Wasserpolizei, die nicht verhindern kann, dass einige Aktivist*innen in die Gewässer der „gelben“ Sperrzone springen. Die Wasserschutzpolizei nimmt die „Beluga II“ mit Wasserkanonen ins Visier.
An Land zerstreut die Polizei später das heterogen zusammengesetzte Spektrum der Protestierenden mit einer „Sprint-Räumung“. Die Zusammenstöße bewegen sich daraufhin in Richtung Schanzenviertel. Dort sammeln sich immer mehr Menschen – Demonstrierende und stadtteiltypisches Publikum. Sie strömen in diese Richtung, weil viele Wege nach Osten abgeschottet sind, aber auch weil sie die Blockaden des Vormittags feiern oder sich verpflegen und ausruhen wollen. Das Schanzenviertel ersetzt in den Protesttagen auch den sozialen Ort, den die Protestcamps hätten bieten können. Es ist zugleich der Ort an dem in der Vergangenheit nach Demonstrationen wiederholt Konfrontationen zwischen Polizei und unter anderem Autonomen stattfanden.
Zu diesen kommt es am Freitag ab dem frühen Abend, zunächst ausgelöst durch einzelne Steinwürfe und kleinere Feuer sowie Interventionen der BFE-Einheiten. In der sich dabei entwickelnden aggressiven Stimmung werden immer größere Teile des sich stetig vermehrenden Publikums ins Geschehen rund um das Schulterblatt verwickelt. Gleichzeitig gehen organisierte Gruppen dazu über, große Barrikaden und Feuer zu errichten. Es kommt schließlich zu Plünderungen mehrerer Geschäfte und Supermärkte.
Für viele Anwohner*innen ist der Riot äußerst beängstigend. Über Stunden bringt die Polizei die Lage nicht unter Kontrolle. Sie vermutet Hinterhalte und so wollen bayrische Einheiten die Sternschanze nicht betreten.
Dies führt im weiteren Verlauf zum Einsatz von schwer bewaffneten, für Antiterroreinsätze ausgebildeten Spezialeinsatzkräften, die insbesondere das Haus Schulterblatt 1 räumen. Laut Polizeimeldungen seien von dort Molotowcocktails geworfen worden und der Bewurf mit Steinplatten drohe. Beide Behauptungen erwiesen sich im Nachhinein als nicht belegt, zeigen aber, in welchem Bedrohungsszenario sich die Polizei selbst verortete. Anwesende und besonders Protestierende zeigen sich schockiert von Art und Ausmaß der eingesetzten polizeilichen Mittel. Die Spezialeinsatzkräfte (SEK) hätten mit ihren automatischen Gewehren schießen können; Schussfreigabe bestand. Anwesende Journalist*innen werden aggressiv an der Arbeit gehindert.[10]
Die Szenerie ist insgesamt äußerst unübersichtlich. Über die Legitimität bestimmter Aktionsformen kommt es nach Berichten gelegentlich auch zu Auseinandersetzungen zwischen Gruppen von Beteiligten und mit Anwohner*innen. Auch für Teile der Autonomen ist die scheinbare Willkür und das Niveau der Ausschreitungen nicht mehr tragbar. Berichten zufolge löschen einige von ihnen auch Feuer an Häusern oder bremsen andere bei deren Aktionen.
Samstag, 8. Juli
Nach den schweren Ausschreitungen und dem bis in die Morgenstunden dauernden SEK-Einsatz der Nacht erscheint der Samstagmorgen als ein Moment der relativen Ruhe. Wenig ruhig beginnt der Tag allerdings für die ca. 1.000 Camper*innen im Protestcamp Altona. Ein Großaufgebot der Polizei führt hier ab 6 Uhr morgens eine Großrazzia durch, bei der die Personalien von vielen Protestierenden festgestellt werden. Die Polizei durchsucht auch Zelte und Rucksäcke.
Der Samstag ist vor allem der Tag der großen Bündnisdemonstration „Globale Solidarität statt G20“. Die Anmelder*innen beklagen, dass sich die Polizei kaum kooperationsbereit gezeigt hatte und ein Kooperationsgespräch nur auf politischen Druck und erst eine Woche vor der Demonstration zustande kam. Nicht alle können ungehindert teilnehmen. Ein Bus der „Sozialistischen Jugend Deutschlands – Die Falken“, besetzt mit teils auch minderjährigen Mitgliedern weiterer Jugendorganisationen wird auf der Fahrt nach Hamburg von vermummten Polizist*innen angehalten. Die Polizist*innen bringen alle Busreisenden in die Gefangenensammelstelle und halten sie dort mehrere Stunden fest. Gründe nennen sie nicht, Kontakt zu Anwält*innen verweigert die Polizei ebenfalls. Einige Beteiligte berichten von entwürdigendem Verhalten: Einschüchterungen, Nacktuntersuchungen, eine körperliche Attacke, Toilettengänge nur unter Beobachtung. Das Verwaltungsgericht Hamburg stuft die Maßnahme im Nachhinein als rechtswidrig ein, die Polizei entschuldigt sich bei den Betroffenen – ein absolute Ausnahme.[11] Doch die verspätete Demonstrationsteilnahme der Gruppe beginnt mit Gefühlen großer Verunsicherung, Ohnmacht und Wut. Ebenso widerrechtlich wurden 15 Personen verhaftet, die sich durch ihre italienische Nationalität sowie mitgeführte Kleidungsstücke verdächtig machten und den Tag der Großdemo komplett in der Gesa verbringen mussten.[12]
„Grenzenlose Solidarität statt G20“ ist dann wirklich eine Großdemonstration. Womöglich über 70.000 Menschen demonstrieren, von denen der größte Teil, teilweise auch kurz entschlossen, aus Hamburg und Umgebung stammt. Die Polizei ist von der Größe der Menschenmenge überrascht und hält ihr vorhandenes Großaufgebot stärker im Hintergrund. Sie begleitet den linksradikalen Block jedoch weitgehend mit dichten Polizeispalieren; viele der Beamt*innen tragen Helme und Sturmhauben. Die Polizei gibt vor allem Brandschutz als Grund an. Doch die Polizei nimmt manche Regelübertretung (PKK-Fahnen, Pyrotechnik) pragmatisch hin. Auf der Demonstration selbst gibt es nur einen größeren Zwischenfall. Ein vermummter Block am Ende des Zuges sprüht Slogans an die Wand eines Bürokomplexes, wird von der Polizei angegriffen, wehrt sich mit Fahnenstangen und wird zerstreut. Die Anmelder*innen hatten in längeren Verhandlungen mit den beteiligten Antiimperialist*innen kein Einvernehmen über die Durchsetzung des allgemeinen Demonstrationskonsenses erzielen können, dem die Handlungen der Gruppe nicht entsprachen.
Bei der Abschlusskundgebung kommt es immer wieder zu aus Demonstrierenden-perspektive unmotiviert erscheinenden polizeilichen Interventionen; BFE-Trupps laufen resolut durch die Menge, ohne allerdings anderweitig aktiv zu werden, und Wasserwerfer fahren vor.
Weitgehend unbeachtet und mit etwa 5.000 Teilnehmenden vergleichsweise schlecht besucht (die Veranstalter*innen hatten zwischen 10.000 und 30.000 Teilnehmer*innen erwartet[13]) war die Demonstration „Hamburg zeigt Haltung“ geblieben, die von den in Hamburg regierenden Parteien Grüne und der SPD unterstützt wurde.
Am Abend kommt es erneut zu Auseinandersetzungen im Schanzenviertel, die teilweise einem Katz- und Maus-Spiel gleichen. An einigen Stellen brennen Barrikaden und Autos werden beschädigt. Die Ausschreitungen erreichen jedoch bei weitem nicht das Ausmaß des Vortages. Die Polizei setzt wieder das SEK ein, zieht es aber schnell wieder ab. Auch ein polizeilicher Warnschuss fällt gegen Mitternacht. Vielen Beobachter*innen fällt die heterogene Mischung der Anwesenden und Beteiligten auf.
Sonntag, 9. Juli ff.
Am Sonntag klingt die ereignisreiche Woche aus. Während tausende Bürger*innen Hamburgs selbstorganisiert beginnen, die Stadt aufzuräumen und zu reinigen, werden auch die Camps abgebaut.
Es gibt nur noch kleinere Proteste. Eine Demonstration mit etwa 1.500 Teilnehmer*innen führt unter dem Slogan „Nobody forgotten, nothing forgiven“ zur Gefangenensammelstelle (Gesa) „Neuland“. Die Verhältnisse in dieser waren schon in den vergangenen Tagen in die Kritik geraten. Der anwaltliche Notdienst beklagt unter anderem, dass Behördenvertreter*innen den Verteidiger*innen die Kontaktaufnahme mit Inhaftierten verweigerten und sie beschimpften. Die in Gewahrsam Genommenen berichten von teils entwürdigenden Behandlungen. Es kam zu Nacktuntersuchungen nach Anwält*innengesprächen. Die in den Zellen Einsitzenden konnten nicht schlafen, weil Polizist*innen sie zur “Lebenkontrolle” halbstündlich weckten; sie bekamen nur unzureichende Verpflegung.[14] So berichtet eine Mandantin: “Wir erhielten erstmals nach etwa acht Stunden Nahrung, und zwar 36g Knäckebrot pro Person. … [und] 20g Schmelzkäse. … Das zweite Mal erhielten wir Knäckebrot erst weitere 12 bis 15 Stunden später.”[15]
Epilog
Die Zeit nach dem Gipfel ist die Zeit einer regen Debatte, die in ihrer Zuspitzung und Polarisierung an die Gipfelereignisse anschließt. Politiker*innen aller in der Bürgerschaft vertretenen Parteien und auch der großen Demonstrationsbündnisse, Attacs und viele mehr verurteilen die Ausschreitungen. Doch die Aufarbeitungsinteressen sind antagonistisch. Protestierende und Bürgerrechtler*innen verurteilen insbesondere die Härte des polizeilichen Vorgehens und die massive Polizeigewalt während der Gipfelproteste. Landes- und bundespolitische Stimmen dagegen zeigen sich mehrheitlich entsetzt über Gewalt von Protestierenden und stellen sich ostentativ hinter die Polizei. Bürgermeister Scholz lobt deren „heldenhafte Tätigkeit“ und erklärt apodiktisch und auch deutlich gegen den Erkenntnisstand zu dieser Zeit: „Polizeigewalt hat es nicht gegeben“ (Spiegel 14.7.2017). Für die eingesetzten Beamt*innen gibt es Solidaritätskonzerte (unter anderem in der Elbphilharmonie), Sonderurlaub und Einsatzprämien von bis zu 500 € sowie Fototermine mit Politiker*innen am Krankenbett.[16]
Sogar das Verbot der Annahme von Spenden wird bis zum 31.8.2017 für Polizeibeamt*innen in Hamburg aufgehoben (bei termingebundenen Veranstaltungen bis zum 31.12.2017).[17]
Die Politik verspricht den Opfern der Zerstörungen schnelle Hilfe und richtet einen Hilfsfonds im Umfang von 40 Mio € ein, von dem allerdings nur 605.000 € abgerufen werden.[18]
Während aktivistische Medien wie „g20-doku.org“ mutmaßliche polizeiliche Übergriffe zu dokumentieren beginnen, gibt es vor allem seitens konservativer Politiker*innen rhetorische Breitseiten gegen die „Extremisten“[19], die als „Mordbrenner“[20] (Martin Schulz, SPD) und „Linksfaschisten“ (Jens Spahn, CDU) bezeichnet werden. Kritisiert wird auch die politische Linke im Allgemeinen, immer wieder kulminierend in der Forderung nach Schließung linker Zentren wie der Roten Flora.[21]
Das bestimmende Thema der massenmedialen Wahrnehmung bleiben die Ausschreitungen: „Nach den G20-Tagen verrutschten die Maßstäbe jedoch in Gänze und die zweifelsohne dramatischen Ereignisse der Freitagnacht wurden zum alleinigen Signifikanten. Vergessen war alles zuvor Geschehene, die vielfältigen Aktionen sowie das harsche Vorgehen der Polizei.“ (Mullis 2018).
In linken Gruppen beginnt eine teils öffentlich ausgetragene Debatte über die Gipfelproteste. Dabei geht es um die Bewertung der politischen (Miss-)Erfolge, aber auch um die erlebte und die selbst ausgeübte Gewalt. Sie pendelt zwischen den Polen der Affirmation der Proteste als „Vorboten des kommenden Aufstands“[22] und als Hoffnungszeichen dafür, dass ein radikaler gesellschaftlicher Wandel möglich ist,[23] auf der einen Seite und Kritik an dem Ausmaß, der Art und den Zielen der sich verselbständigenden Gewalt auf der anderen.[24]
Es melden sich auch Stimmen zu Wort, die sich der Polarisierung der politischen Debatte entziehen und beispielsweise aus Sicht des Erlebens von Anwohner*innen und örtlichen Gewerbetreibenden sowohl Polizei als auch Protestierende für die Ereignisse der Woche im Juli kritisieren und sich zugleich gegen undifferenzierte Diffamierungen beispielsweise der Roten Flora positionieren.[25]
Auch wenn die Forderung nach einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss laut wird und Forscher/innen, insbesondere aus der Protestforschung eine unabhängige Expert*innenkomission fordern,[26] wird schließlich ein „Sonderausschuss“ der Hamburgischen Bürgerschaft eingesetzt. Ein solcher hat weniger Rechte als ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss. Die beteiligten Fraktionen haben darin höchst unterschiedliche Aufklärungsinteressen und beklagen teilweise äußerst unkooperatives Verhalten der Sicherheitsbehörden, die beispielsweise Akten zurückhalten und umfänglich schwärzen.
Die Polizei richtet eine Sonderkommission mit dem Namen „Schwarzer Block“ mit etwa 180 Mitarbeiter*innen ein.[27] Fünfzehn Beamt*innen aus dem Dezernat „Interne Ermittlungen“ ermitteln gegen Polizist*innen. Die Soko arbeitet auch mit Hilfe von Software, die mehrere Terrabite Fotos und Videos (darunter zehntausende Einzelfilme und hunderttausende Stunden Videomaterial der Hochbahn) mit Gesichtserkennungsverfahren durchforstet.[28] Einige Verfahren kommen unmittelbar in Gang und die schnellen Urteile gelten als überdurchschnittlich hart. Über ein Hinweisportal kann die Öffentlichkeit Bilder und Videos direkt hochladen. Aufsehen und harsche Kritik erregt, dass die Polizei das Mittel der Öffentlichkeitsfahndung mit Bildern von Verdächtigen und/oder Zeugen einsetzt. Das Stigmatisierungspotenzial für die Betroffenen, denen teilweise nur kleinere Vergehen zur Last gelegt werden, wird deutlich, als Boulevard-Medien die Fahndung aufgreifen. Die „Bild“-Zeitung veröffentlicht beispielsweise großformatig das Bild einer Minderjährigen, die sie als „Krawall-Barbie“ an den medialen Pranger stellt.
Autonome Gruppen reagieren mit einem halb-ironischen „Öffentlichen Fahndungsaufruf“ in Plakatform, der politisch Verantwortliche und Polizist*innen zur „Fahndung“ ausschreibt.
Das Vorgehen der Polizei gegenüber den Camps bleibt in der Debatte und ist Gegenstand einer Reihe von Klagen. Insbesondere das Verbot von Schlafzelten zu Beginn der Protestwoche steht hier zur Debatte. Anwält*innen der Camps in Entenwerder und Altona werfen der Polizei Rechtsbruch vor. Im Zuge dieser Verfahren erhoffen die Anwält*innen nicht zuletzt eine rechtliche und politische Anerkennung von Protestcamps als in ihrer Gänze durch das Grundgesetz geschützte politische Versammlungen.
Literatur
Mullis, D., 2018: G20 in Hamburg. Politik, Unvernehmen, Ausnahmezustand und das Ende der Postdemokratie. s u b \ u r b a n. zeitschrift für kritische stadtforschung 6: 29–50.
Döhner, Y., 2018: Riots und Nachbarschaftsorganisierung. In: Dellwo et al. (Hrsg.), Riot. Was war da los in Hamburg. Theorie und Praxis der der kollektiven Aktion, Hamburg: Laika.
Endnoten
[3] Der Spiegel vermeldet sogar Informationen aus „Sicherheitskreise[n]“, nach denen „10.000 gewaltbereite Demonstranten“ erwartet werden. Spiegel, 1.7.2017.
[6] Selbstbeschreibung, 6.7.2017.
[9] Tagesschau, 19.10.2017 & Spiegel, 30.8.2017.
[10] Nur ein Beispiel: Youtube.
[11] NDR, 23.9.2017 & NDR, 30.7.2017.
[14] Erinnerungsberichte sind unter anderem im RAV-Informationsbrief Nr. 114/2017 dokumentiert.
[15] RAV-Informationsbrief #114, 2017: „G20-Gipfel in Hamburg”, S. 31.
[16] Vionville Blogspot, 14.7.2017.
[17] Baustian, V., 2017: “Spenden an die Polizei … ausnahmsweise erlaubt!”, Hamburger Polizei Journal, Juli 2017, S. 35.
[19] „Sie sind verachtenswerte gewalttätige Extremisten, genauso wie Neonazis das sind und islamistische Terroristen.“, Bundesinnenminister de Maiziere, Spiegel, 10.7.2017.
[20] „Dass Mordbrenner aus ganz Europa hier den Kiez terrorisiert haben, war furchtbar und ihnen müssen wir das Handwerk legen.“, SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz auf Facebook, 13.7.2017
[21] „So etwas wie die Rote Flora, besetzte Häuser in Berlin und so etwas, was es in Connewitz in Leipzig gibt, kann man nicht hinnehmen. Wenn das einmal eingerissen ist, ist das nicht so leicht wieder zu lösen.“, Bundesinnenminister de Maizière, Westfälische Rundschau, 11.7.2017
[22] So, selbst aus distanzierter Perspektive, Andreas Blechschmidt in ak Nr. 639, 19.6.2018, S. 27.
[23] „Als Kulisse dieser Überlegungen lodern noch die Barrikaden im Hamburger Schanzenviertel: Duft der Freiheit, rauschhafte Grenzüberschreitung, polizeilicher Kontrollverlust. Augenblicke, im Aufbegehren gegen den G20-Gipfel nicht enden wollende Momente, die eine andere Welt sinnlich spürbar machen” (Döhner 2018).
[24] “Wir haben den Eindruck gehabt, dass sich hier etwas verselbstständigt hat und dass hier eine Form der Militanz auf die Straßen getragen wurde, die sich an sich selbst berauscht hat. Und das finden wir politisch und inhaltlich falsch.“, Andreas Blechschmidt (Sprecher der Roten Flora), Tagesschau, 8.7.2017
[25] Unter anderem in der Stellungnahme einiger Gewerbetreibender aus dem Schanzenviertel, Facebook, 12.7.2017, taz, 21.7.2017,MOPO, 20.7.2017 und bei einer Stadtteilversammlung, vgl. welt.de, 21.7.2017.
[26] protestinstitut.eu, 18.7.2017.