von Peter Ullrich
ABSTRACT Der Aufsatz schildert das interdisziplinäre und multiperspektivische Projektdesign des Forschungsnetzwerks „Mapping #NoG20“ und stellt die in den einzelnen Projektmodulen verwendeten Daten und Auswertungsmethoden dar. Zugleich werden die ‚Grenzen der Forschung‘ im untersuchten Feld ausgelotet, das heißt die forschungspraktischen und forschungsethischen Herausforderungen angesichts der Brisanz des umkämpften Gegenstands. PDF als Download Titelbild: Robert Anders (cc-by via Flickr) |
1. Komplexer Forschen im Netzwerk
Das Forschungsprojekt „Mapping #NoG20“ hat sich die Aufgabe gestellt, die Gewalteskalation im Rahmen des G20-Gipfels und der Proteste gegen das Treffen zu analysieren. Anders als viele der schnellen und oft äußerst pointierten, aber wenig belastbaren, Deutungen, die vor allem aus politischen Vorprägungen und der Unmittelbarkeit des eindrücklichen Erlebens im Augenblick der Geschehnisse erklärbar sind, müssen solche Analysen zwei basale Kriterien erfüllen: a) den Stand theoretischen Wissens der relevanten Forschung verarbeiten und b) dieses anhand solider empirischer Daten prüfen. Diese Daten müssen insbesondere geeignet sein, den Anspruch des Projektes einzulösen, eine prozesshafte und zugleich kontextsensible Erklärung der Eskalation aus dem Zusammenspiel von Interaktionen und Deutungen zu ermöglichen. Zugleich sollten Ergebnisse noch für die politische Debatte über G20 nutzbar sein, also innerhalb eines überschaubaren Zeitrahmens von einigen Monaten vorliegen.
Aus diesen Anforderungen resultiert des multiperspektivische, interdisziplinäre und netzwerkorientierte Forschungsdesign. Dieses wird im Folgenden im Überblick und hinsichtlich zentraler Einzelbestandteile vorgestellt. Dabei wird auch reflektiert, mit welchen systematischen Beschränkungen und forschungspraktischen wie forschungsethischen Herausforderungen eine Untersuchung konfrontiert ist, die ein hochgradig politisiertes und emotional aufgeladenes Thema zum Gegenstand hat, zu dem zeitgleich eine öffentliche Debatte, journalistische Berichterstattung und nicht zuletzt strafrechtliche Ermittlungen stattfinden.
2. Interdisziplinäre Projektstruktur und multiperspektivischer Forschungsprozess
Das im Herbst 2017 entstandene Forschungsteam vereint Wissen und Kompetenzen verschiedener durch die Forschungsfrage tangierter Disziplinen. Der Erkenntnisprozess lebte vom produktiven Austausch unter Vertreter*innen der sozialwissenschaftlichen Protest-, Polizei-, Gewalt- und Medienforschung, Kriminologie, Rechtswissenschaft und Archivwesen. Die Hauptlast der empirischen Arbeit lag bei neun Projektmodulen, die einzelne Themenbereiche eigenverantwortlich bearbeiteten. Es handelt sich im Einzelnen um die Module „Bewegungsdebatten“, „Demonstrationsbefragungen“, „Gesamt-rekonstruktion“, „Medienanalyse“, „Polizei“, „Recht“, „Situationsanalysen“, „Social Media“ und „Umkämpfte Camps“. Daraus ergibt sich ein multiperspektivisches Gesamtdesign der Untersuchung.
Entscheidendes Kriterium für die Fruchtbarkeit des gesamten Forschungsprozesses war der enge und hochfrequente Austausch im Netzwerk. Die technische Infrastruktur, die eine intensive Kooperation ermöglichte, bestand unter anderem aus einem Projektwiki, einem Webspeicher (Network Area Storage), Plattformen zum kollaborativen Schreiben und einer webbasierten Zotero-Gruppenbibliothek zur Verwaltung von Quellen und Sekundärliteratur. Zwischen November 2017 und Juli 2018 haben wir uns in sieben Projektworkshops und Konferenzen zur Abfassung des Projektberichts getroffen. Dort wurde die Forschung der Module diskutiert und diese immer wieder miteinander in produktiven Austausch in Hinblick auf das gemeinsame Forschungsrätsel gebracht. Die Treffen dienten der kontinuierlichen kollaborativen (Weiter-)Entwicklung des theoretischen Ansatzes, der Nachsteuerung der empirischen Erhebung und der Wissensintegration.
Ein wissenschaftlicher Beirat begleitete die Konzeption des Projektes und Teile der Projektworkshops.[1] Mitarbeiter*innen des Archivs am Hamburger Instituts für Sozial-forschung achteten insbesondere auf Möglichkeiten der Langzeitarchivierung und Weiterverwendbarkeit der gesammelten Daten.
3. „Protestforschung am Limit“[2] – Grenzen der Wissensproduktion
Die hohe Brisanz des Forschungsthemas hat Auswirkungen auf die grundsätzliche Möglichkeit sowie die Art und Weise, in der Forschung möglich war. Diese spezifischen Bedingungen müssen in Hinblick auf mögliche blinde Flecken der Forschung, also als Erkenntnisgrenzen sowie als forschungsethische Probleme, thematisiert werden.
3.1. Forschungspraktische Herausforderungen
Die Produktion von Wissen über die Gewalteskalation in Hamburg wird durch strukturelle blinde Flecken begrenzt, die aus der Beschaffenheit des Gegenstandes selbst resultieren und vor allem mit asymmetrischer projektexterner Wissensproduktion und Feldzugangsproblemen zusammenhängen.
Wissensasymmetrien entstehen vorrangig aufgrund der unterschiedlichen Neigung und Fähigkeit bestimmter Akteur*innen, ihr Tun (oder ihre Betroffenheit) zu dokumentieren beziehungsweise medial zu verbreiten. Dies verdeutlichen besonders gut die Verletztenzahlen. Die Erfassung der verletzten Polizist*innen und Demonstrierenden erfolgte, wie im Forschungsbericht ausgeführt, sehr unterschiedlich und fand auch unterschiedliche mediale Verbreitung. Zur Polizei liegen Zahlen vor, die über behördlich betriebene soziale Medien und dann weiter über die Massenmedien Verbreitung fanden, allerdings, um aussagekräftig zu sein, einer genauen Kenntnis ihres Zustandekommens bedürfen. Die bloßen Zahlen suggerieren mehr als sie tatsächlich mitteilen. Für die Zahl verletzter Protestierender hingegen gibt es ausschließlich vage Indizien. Ein verlässliches Gesamtbild von Art und Schwere sowie Inzidenz der Verletzungen, noch dazu mit Vergleichbarkeit der beiden dafür wesentlichen Akteursgruppen ist – trotz kursierender Zahlen – kaum möglich. Unsicherheiten gibt es auch in vielen weiteren Fragen wie der Anzahl der Teilnehmenden an den Demonstrationen, bei denen teils sehr stark voneinander abweichende Angaben von Seiten der Polizei und der Organisator*innen vorliegen. Dies gilt umso mehr für die offenen Szenarien (beispielsweise beim „Cornern“ oder bei den Unruhen im Schanzenviertel), in denen sich Protestierende, Zuschauer*innen und andere zum Teil bis zur Ununterscheidbarkeit miteinander vermischten und auch Rollen wechselten. Viele Dokumente, die Aufschluss über die Vorbereitungsprozesse geben könnten (beispielsweise zur Rolle des Verfassungsschutzes bei der Erstellung polizeilicher Lageeinschätzungen, aber auch aus der Vorbereitung militanten Protests), sind für die Öffentlichkeit nicht zugänglich.
Probleme des Feldzugangs gab es bei verschiedenen Akteursgruppen, vor allem jedoch bei den an den Krawallen und Angriffen auf die Polizei Beteiligten – aufgrund von Distanz gegenüber der Forschung, Angst vor Strafverfolgung und wegen des Fehlens von Ansprachemöglichkeiten. Unsere Analysen dieser Gruppe müssen aus Mangel an Selbstzeugnissen daher weitgehend auf Beobachtungen, Videobilder und Berichte Dritter zurückgreifen.
Im Ergebnis nicht unähnlich, wenn auch aus zum Teil anderen Motiven, ist die Situation bei Akteur*innen des Sicherheitsbereichs, namentlich der Polizei, wo vor allem der Geheimnisschutz die Forschung vor große Hürden stellt. Dies manifestierte sich schon im Zurückhalten oder weitgehenden Schwärzen wichtiger Unterlagen durch die Polizei für den Sonderausschuss. Auch unsere eigenen Erhebungen im Feld Polizei unterlagen vergleichbaren Beschränkungen. Wir können im Projekt zwar auf eine große Zahl von Interviews mit Polizist*innen zurückgreifen, waren aber weitgehend abhängig von der Steuerung der Behördenleitung in Hamburg. So wurden überwiegend Interviews mit ausgesuchten, vor allem hochrangigen Beamt*innen gewährt. Gespräche mit den auf den Straßen Hamburgs eingesetzten Beamt*innen der Bereitschaftspolizeien waren kaum möglich.
Auch bei vielen, die in ihrer Rolle als organisierte politischen Aktivist*innen angesprochen wurden, gab es Zurückhaltung und Skepsis gegenüber den Anfragen der Forschenden. Hier spielen die gegensätzlichen Verständnisse von, divergierenden Erwartungshaltungen an und konkreten Erfahrungen mit der Protestforschung eine Rolle. Dieses Spannungsverhältnis zwischen der Forschung und ihrem Gegenstandsbereich ist grundsätzlicher Natur sind, wurde aber gerade im Jahr 2017 in der Forschung wie auch im aktivistischen Feld rege diskutiert. Auslöser waren vor allem die Einrichtung neuer Forschungsstellen, die im Zuge sicherheitsstaatlicher Reaktionen auf G20 eine zusätzliche Brisanz bekamen (Teune & Ullrich 2018) und eine Debatte um – so die Kritik – fehlende Abgrenzungen zwischen Sicherheits- und Protestforschung. Doch schließlich waren hier – zusätzlich zu den ohnehin zugänglichen öffentlichen Quellen – viele Anmelder*innen, Organisator*innen und Protestteilnehmende zur Auskunft bereit.
Von Unsicherheiten überlagert wurde die Forschung nicht zuletzt dadurch, dass die Auseinandersetzung um die Geschehnisse andauert und weiterhin hoch konfrontativ ist. Wer sich derzeit äußert, tut dies oft mit ihr*ihm wichtigen, mit Nachdruck vertretenen Anliegen. Zu stark sind die mit der Erinnerung an G20 verbundenen Emotionen, die auf eindrücklichen subjektiven Erfahrungen basieren und zugleich kollektiv tradiert und gefestigt werden. Zu stark ist auch die akute Relevanz der Deutungen von Hamburg 2017, unter anderem angesichts hunderter laufender Strafverfahren. Einschätzungen und Quellen (nicht zuletzt auch mögliche Auslassungen) müssen daher mit besonderer Sorgfalt geprüft und im Hinblick auf ihre motivationalen Hintergründe interpretiert werden. Diese Problematik stellt jedoch nicht nur eine epistemologische Herausforderung dar – also den Imperativ größter Sorgfalt bei der Quellenkritik –, sondern erzwingt auch umfangreiche forschungsethische Reflexionen.
3.2. Forschungsethische Fragen
Die Reflexionsanforderungen beziehen sich erstens auf das Rollenverständnis der Forschenden, die – bei aller Heterogenität im Team – dem Gegenstand gegenüber ebenso wenig neutral sind wie andere am Thema Interessierte und zum Teil selbst schon als öffentliche Kommentator*innen der Ereignisse aufgetreten waren. Auch die Forschenden sind schließlich nicht davor gefeit, sensationelle Entdeckungen machen oder mit kriminalistischem Spürsinn einzelne Akteur*innen bestimmter Vergehen überführen zu wollen. Die Neigung zur Zuspitzung ist im Diskurs über den Gegenstand ohnehin angelegt. Im Team wurde deshalb kontinuierlich über mögliche stereotype Erwartungshaltungen oder Ungleichgewichte in der Fokussierung einzelner Akteur*innen und so weiter reflektiert; theoretische und empirische Strenge wurde diesen – verständlichen, aber verzerrenden – Impulsen entgegengestellt.
Zweitens waren die möglichen direkten und indirekten Wirkungen der Forschung selbst zu reflektieren. Dies betrifft einerseits die Auswirkungen auf das öffentliche Verständnis des Gegenstandes selbst. Diese sind zwar explizit angestrebt, stellen aber gerade deshalb auch hohe Ansprüche an Art und Güte der Ergebnisse. Zum zweiten, und dies war vor allem eine organisatorische Herausforderung, sind die Datenerhebung, -speicherung und -publikation geeignet, Informat*innen, Interviewpartner*innen und so weiter zu beeinträchtigen. Dies gilt insbesondere angesichts der laufenden strafrechtlichen Ermittlungen durch eine 170-köpfige Sonderkommission, deren intensiver Datenerhebung unter anderem über Uploadportale, ihrer Nutzung automatisierter Bildauswertung und des Mittels der Öffentlichkeitsfahndung. Forschungsdaten, ganz besonders aus Dunkelfeldbefragungen, haben vor diesem Hintergrund generell das Potenzial, Interviewpartner*innen selbst oder Dritte zu gefährden (sei es durch den verfolgungsrelevanten Inhalt der mitgeteilten Informationen oder das Fehlen der für eine Äußerung von Beamt*innen erforderlichen Aussagegenehmigung seitens der Behördenleitung), wenn sie das Interesse der Ermittlungsbehörden auf sich ziehen. Da Forschungsdaten keinem privilegierten rechtlichen Schutz unterliegen, machte dies im Projekt immens erhöhte Anstrengungen zum Daten- und Geheimnisschutz notwendig. Dazu gehörten unter anderem das Arbeiten mit E-Mail- und Speicherverschlüsselung, die Bereitstellung anonymer Wege der Zusendung von Daten wie Erlebnisberichten, die Anonymisierung von Daten ohne Möglichkeit der Rekonstruktion zugehöriger oder inhaltlich ableitbarer Personendaten und die Inanspruchnahme anwaltlicher Datentreuhänder. Darüber hinaus können Forschungsergebnisse selbst Anknüpfungspunkte für normative Zuschreibungsprozesse und juristische Bewertungen durch Justiz, Politik und Verwaltung im Sinne eines scheinbar ,gesicherten Expertenwissens‘ sein, die ihrerseits der Interpretation durch die Forscher*innen entzogen sind.
Sowohl die forschungspraktischen als auch die forschungsethischen Herausforderungen sind aus wissenschaftlicher Perspektive zunächst eher Hindernisse und damit begrenzende Faktoren. Sie führen dazu, dass die präsentierten Ergebnisse in Teilen unvollständig bleiben müssen oder Verzerrungen aufweisen. Dies kann durch Perspektiven- und Datentriangulation teilweise ausgeglichen werden, stellt aber eine prägende Kontextbedingung des Projektes dar.
4. Daten und Forschungsmethoden
Die Analysen fußen auf einer breiten Datenbasis. Zum einen wurden vorliegende Daten systematisch recherchiert, gesichert und aufbereitet (verschlagwortet etc.), darunter Dokumente (unter anderem parlamentarische Anfragen, polizeiliche Einsatzbefehle, Ausschussprotokolle, Protestaufrufe), Internet-Videos, die Twitter-Beiträge zum Thema G20 der gesamten Protestwoche und die Medienberichterstattung in mehreren Presseorganen für die Zeit um den Gipfel.
Eine große Rolle spielen zum anderen selbst erhobene Daten. Dazu gehören eine Befragung von 1095 Teilnehmer*innen der „Protestwelle“ und der Großdemonstration „Grenzenlose Solidarität statt G20“, ethnografische Protokolle von Protestbeobachtungen sowie 65 Interviews mit verschiedenen Akteur*innen (Polizei, Protestorganisator*innen, parlamentarische Beobachter*innen, Journalist*innen, Anwält*innen, Anwohner*innen, Beteiligte an Protesten und Ausschreitungen). Diese wurden ergänzt durch eine Vielzahl von Hintergrundgesprächen und durch die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen, beispielsweise Sitzungen des Sonderausschusses. Zudem bestand über die Projektwebseite die Möglichkeit, verschlüsselt anonyme Erfahrungsberichte einzusenden, von der allerdings nur zurückhaltend Gebrauch gemacht wurde.
Kritisch muss angemerkt werden, dass unter den Interviewten Männer dominieren. Dies gilt vor allem für die befragten Polizist*innen (fast ausschließlich Männer), deutlich abgeschwächt aber auch für das Protestspektrum und andere Interviewte. Darin kommt teilweise die relative männliche Dominanz, nicht zuletzt in polizeilichen Führungspositionen zum Ausdruck. Diese Zusammensetzung hat aber gerade beim Thema Gewalt möglicherweise Auswirkungen auf Art und Inhalt der Darstellungen. Verschiedene wissenschaftliche und journalistische Kommentator*innen der G20-Proteste haben schon im direkten zeitlichen Kontext der Proteste darauf hingewiesen, dass Männer, beziehungsweise die Zurschaustellung einer hypermaskulinen, oft kriegerisch inszenierten Männlichkeit (vgl. a. Behr 2000) eine große Rolle im Gewalthandeln und seiner Ästhetisierung bei unterschiedlichen beteiligten Akteursgruppen spielten.
Auch wenn die im Projekt erhobenen Daten von allen Beteiligten gemeinsam genutzt wurden und alle Module auf die gleichen Informationen aus Dokumenten und Interviews zurückgegriffen haben, haben doch einzelne Module sehr spezifische Datenarten erhoben und teils weniger bekannte Analyseverfahren verwendet. Auch die forschungspraktischen Herausforderungen gestalteten sich teilweise themen- beziehungsweise feldspezifisch. Diese Aspekte werden im Folgenden in alphabetischer Reihenfolge für alle Module dargestellt. Allgemein bekannte und etablierte Erhebungsmethoden wie das Expert*inneninterview (Gläser & Laudel 2010) und Auswertungsverfahren wie Dokumentenanalysen und qualitative Inhaltsanalysen (Mayring 2000) werden an dieser Stelle jedoch nicht ausführlich behandelt; sie können als weitgehend bekannt vorausgesetzt werden und sind andernorts ausreichend erklärt. Die Darstellung hier wird auch kurz gehalten, wenn auf bereits andernorts publizierte Teilstudien wie die Demonstrationsbefragungen und Demonstrationsbeobachtungen zurückgegriffen wird. Deshalb sind die folgenden Abschnitte unterschiedlich detailliert. Insofern die Einzeldarstellungen auf Textzuarbeiten aus den Modulen zurückgehen, sind die (Ko-)Autor*innen der jeweiligen Abschnitte ausgewiesen.
4.1. Bewegungsdebatten
(Textgrundlage: Robert Matthies und Nils Schuhmacher)
Die Analysen des Moduls basieren primär auf öffentlich zugänglichem Material, darunter vor allem Schriftstücke und visuelle Daten. Darunter fallen Beiträge von Gruppen und Zusammenschlüssen („Bündnissen“, „Plattformen“, „Netzwerken“) sowie ausgewählte Beiträge von Einzelnen, sofern es sich bei ihnen um Personen handelt, die als Organisator*innen, Anmelder*innen oder allgemein als Repräsentant*innen in das Protestgeschehen involviert waren.
Insgesamt wurden 145 Einheiten in die Analyse einbezogen, darunter 114 Texte, 19 Mobilisierungsvideos sowie 11 sonstige Formate (Pressekonferenzen u.ä.). Der größere Teil entstand vor dem 2. Juli 2017. Die im Vorfeld produzierten Texte sind meist kurz, enthalten grundlegende politische und strategische Standortbestimmungen und sind zudem häufig in der Absicht verfasst, in den öffentlichen Diskurs hineinzuwirken. Demgegenüber fallen Beiträge, die im Nachgang verfasst wurden, zumeist länger aus, reflektieren und bewerten das Geschehene und sind nach innen – zumeist auf die eigene Strömung innerhalb des Protestgeschehens – ausgerichtet. In ihnen kommt somit genau jene Einheit nicht zum Ausdruck, die im Vorfeld angesichts politischer Angriffe von außen demonstrativ herausgestellt wurde. In vielen Videos verbinden sich Aspekte der Drohung nach außen und der Mobilisierung nach innen mit Repertoires popkultureller Selbstdarstellung und -beschreibung. Es dominieren deutschsprachige Quellen. Dies ist – die Unsicherheit über die tatsächliche Verzweigtheit der Mobilisierungsstruktur in Rechnung stellend – zumindest ein Indikator für die Annahme, dass im internationalen Rahmen relativ schwach und zudem eher bewegungsintern mobilisiert wurde. Material über die Vorbereitung militanter Aktionen ist aufgrund ihres klandestinen Charakters quasi nicht vorhanden. Dokumente, die diese Aktionsform nennen, beschreiben sie als Möglichkeit und beinhalten meist nur vage gehaltene Ankündigungen und Wunschvorstellungen.
Das gesamte Material wurde in einem ersten Schritt nach Datensorten, Zeitpunkten und Urheberschaft sortiert. Im Rahmen der gegebenen zeitlichen Möglichkeiten wurde dann, orientiert an den Grundoperationen qualitativer Inhaltsanalyse, eine Vorauswertung entlang thematischer Episoden vorgenommen. Ergänzend und validierend wurde das Material mit Deutungen aus den Interviews anderer Module konfrontiert.
4.2. Demonstrationsbefragungen
Die Demonstrationsbefragung ist eine Methode der Protestforschung, die dazu dient, detailliertes Wissen über die Teilnehmenden an Demonstrationen zu gewinnen, unter anderem über ihre Einstellungen, Motive, Mobilisierungswege, Protesterfahrungen, Soziodemographie und anderes mehr. In die Studie „Mapping #NoG20“ gingen Ergebnisse einer Befragung von Teilnehmer*innen der „Protestwelle“ (2.7.2017) und der Großdemonstration „Grenzenlose Solidarität statt G20“ (8.7.2017) ein. Die Umfrage entstand in Kooperation des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung (ipb) mit dem Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik (Socium) der Universität Bremen sowie dem Göttinger Institut für Demokratieforschung. Die Befragung war als kombinierte Online- und Papierfragebogenstudie konzipiert. Die Befragten wurden auf den beiden Demonstrationen nach einem strukturierten Zufallsprinzip ausgewählt. Insgesamt wurden 4.187 Personen angesprochen; 3.515 davon haben den personalisierten Fragebogen angenommen und 1.095 haben ihn tatsächlich ausgefüllt. Dies ist eine überdurchschnittliche Rücklaufquote. Eine detaillierte Darstellung der angewendeten Methode, des Datensatzes und weiterer Ergebnisse ist bereits publiziert (Haunss et al. 2017). Für das Projekt „Mapping #NoG20“ wurden weitere statistische Analysen mit dem vorliegenden Datensatz vorgenommen.
4.3. Gesamtrekonstruktion
Die Aufgabe dieses Moduls lag primär in der Erstellung der Chronologie der Ereignisse und der Entwicklung einer theoretischen wie empirischen Gesamtperspektive. Daher stand nicht die Erhebung eigener Daten, sondern die Integration des durch die anderen Module produzierten Wissens sowie Recherchetätigkeit, theoretische Reflexion und Netzwerkkoordination im Zentrum. Nur ergänzend und zur Auffüllung von bestimmten Wissenslücken wurden vom Modul eigene Erhebungen in Form von Expert*inneninterviews durchgeführt, insbesondere mit Beobachter*innen des Protestgeschehens und Demonstrationsanmelder*innen.
4.4. Medienanalysen
(Textgrundlage: Corinna Harsch, Moritz Sommer, Simon Teune)
Für die Medienanalyse wurden fünf große, überregionale Tageszeitungen (Taz, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Bild, Welt) sowie die beiden Lokalzeitungen Hamburger Morgenpost und Hamburger Abendblatt ausgewählt. Die Datenbanken NexisLexis, Wiso Praxis und die Online Archive der Süddeutschen Zeitung und der F.A.Z. wurden nach Artikeln mit beinhalteten Zeichenfolgen „G20“/„G-20“/„G 20“, für den Zeitraum drei Wochen vor dem Protestauftakt (2.7.2017) und vier Wochen nach Protestende (8.7.2017), also vom 12. Juni bis zum 5. August 2017 durchsucht. In den überregionalen Tageszeitungen wurden 2.463 Artikel zu G20 gefunden, in 1.163 davon wurden Proteste erwähnt. Kurzmeldungen, Leser*innenbriefe und Kommentare aus anderen Zeitungen wurden nicht berücksichtigt.
Den Artikeln wurden Ereignis-Tags zugeordnet, wenn sie sich explizit auf ein Protestereignis bezogen. Diese sind in einer Excel-Datei festgehalten, so dass gezielt auf Artikel zugegriffen werden kann, die sich mit einem bestimmten Ereignis befassen. Die Artikel, die im Berichtszeitraum der Protestwoche (also vom 2.7. bis 10.7.) erschienen sind, wurden nach einem Kodierschema erfasst, das sich an der Studie „Großdemonstrationen in der Medienberichterstattung“ (Teune & Sommer 2017) orientiert. Die Kodierung bezieht sich auf die Bewertung der Demonstrierenden, die Sprecher*innen, die zu Wort kommen, und den Raum, der Protestmotiven gegeben wird. Für SZ, F.A.Z., Welt und Bild werden alle Artikel kodiert, für taz, Mopo und Abendblatt nur jeder zweite. Darüber hinaus wurden bei diesen Artikeln drei Typen von Deutungsmustern erfasst: Deutungsangebote von Demonstrierenden, Deutungsangebote über Demonstrierende, Deutungsangebote zur Eskalation. Damit liegen Textpassagen vor, in denen Journalist*innen oder Sprecher*innen, die im Artikel zitiert sind, die Ereignisse rahmen und mit Sinn versehen. Diese inhaltsorientierte Kategorisierung bildet die Basis für Häufigkeitsauszählungen und andere deskriptive Statistiken.
Tabelle 1: Anzahl der einbezogenen Artikel nach Medium
Zeitung | Artikel insgesamt | Artikel mit Protestbezug (ohne Leserbriefe, Kurzmeldungen etc.) |
Artikel mit Protestbezug in der Protestwoche
2.7. -10.7. |
Taz | 502 | 299 | 95 |
Süddeutsche Zeitung | 288 | 103 | 28 |
Frankfurter Allgemeine Zeitung | 225 | 70 | 25 |
Bild | 89 | 39 | 12 |
Welt | 171 | 77 | 28 |
Hamburger Morgenpost | 460 | 214 | 103 |
Hamburger Abendblatt | 728 | 361 | 123 |
Gesamt | 2.463 | 1.163 | 414 |
4.5. Polizei
(Textgrundlage: Roman Thurn, Philipp Knopp, Stephanie Schmidt, Peter Ullrich)
Als empirisches Material gehen achtzehn leitfadengestützte Interviews, Protokolle von teilnehmenden Beobachtungen, insbesondere während der Proteste vor Ort (teilweise bereits publiziert von Hunold et al. 2018), und Kongressteilnahmen, öffentlich zugängliche Quellen wie die Protokolle des Sonderausschusses „Gewalttätige Ausschreitungen rund um den G20-Gipfel in Hamburg“, Zeitungen und andere Printmedien der Polizeigewerkschaften, der Rahmenbefehl für den Polizeieinsatz, diverse Videoaufzeichnungen, Bilddokumente und die Allgemeinverfügung vom 1. Juni 2017 in die Analysen ein.
Die Interviews wurden über offizielle Anfragen sowohl an die Hamburger Polizei als auch an verschiedene Landespolizeien, bestehende Feldkontakte, Aufrufe im Internet und in sozialen Medien akquiriert. Sechzehn Interviews wurden mit Beamt*innen der Polizei geführt. Davon befanden sich zehn Polizist*innen in leitenden Positionen.[3] Wir führten sechs Interviews mit Polizist*innen, die keine leitende Aufgabe innehatten.[4] Außerdem sprachen wir mit zwei Anwält*innen, die in den Bereichen der Anmeldung eines Protestcamps und der Gefangenensammelstelle tätig waren. Die transkribierten Interviews wie auch anderes schriftliches Material wurden mittels qualitativer Inhaltsanalyse ausgewertet, während die Videos und Bilder mit dem Fokus auf bestimmte Einsatzpraktiken gesichtet worden sind.
Der Feldzugang erwies sich mitunter als problematisch – ein generelles Problem der Forschung zu Protest Policing (Ullrich 2018): Während seitens des BKA eine Beteiligung am Gipfel verneint wurde, wurden Interviewanfragen bisweilen mit der Begründung abgelehnt, dass wissenschaftliche Anfragen erst nach Beendigung der Arbeit des Sonderausschusses der Hamburgischen Bürgerschaft zu G20 beantwortet werden könnten. Verschiedene kontaktierte Behörden teilten uns mit, dass dies Ausdruck einer politischen Vorgabe sei, da sowohl die internen Nachbereitungen als auch die Fahndung der „SoKo Schwarzer Block“ noch nicht abgeschlossen seien. Im noch immer andauernden Konflikt um die Deutungshoheit über die Ereignisse im Juli 2017 präsentiert sich uns die Polizei tendenziell homogen. Die zeitliche Nähe, ermittlungstaktische Erwägungen und die politische Kontroverse schlagen sich also auch nachteilig auf die Qualität der Daten nieder: Einige schwierige polizeiliche Entscheidungen, Konflikte zwischen verschiedenen Länderpolizeien, verschiedenen Einsatzkräften oder zwischen Beamt*innen im gehobenen und mittleren Dienst werden allenfalls am Rand thematisiert und entsprechende Erzählungen mitunter abgebrochen. Auch das im Aufgabenbereich der Polizei angelegte Dilemma, einerseits Versammlungen schützen und deren Ablauf gewährleisten zu müssen sowie andererseits etwaige Gefahren abzuwehren, wird kommunikativ zumeist zugunsten der (routinierten oder erfolgreich verlaufenen) Gefahrenabwehr aufgelöst. Insgesamt kann aber gesagt werden, dass sich die Polizei im Vergleich zu anderen Forschungen nach anfänglichen Problemen beim Feldzugang durchaus gesprächsbereit zeigte, was sich auch in der hohen Zahl der Interviews niederschlägt, obwohl gerade Polizist*innen des mittleren Dienstes, deren Perspektive wir gerne stärker vertreten gesehen hätten, im Sample unterrepräsentiert sind. Das hat zur Folge, dass womöglich Perspektiven überwiegen, die die ‚offizielle‘ Polizeikultur (Behr 2006) repräsentieren, mithin eine zu Legitimationszwecken geglättete Präsentation der organisationalen „Schauseite“ (Kühl 2014: 333).
Diese Leerstellen der Forschung haben wir durch Nutzung von ohnehin öffentlichen oder anderweitig der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Dokumenten und eigene Beobachtungen vor Ort nur teilweise ausgleichen können. Die polizeiliche Sicht auf das konkrete Geschehen bleibt somit bruchstückhaft.
4.6. Recht
Die zentrale Aufgabe des Rechtsmoduls bestand in der Entwicklung eines elaborierten Konzepts einer rechtskonformen und hochgradig datenschutzsensiblen Infrastruktur für Datenerhebung und -speicherung sowie in der Beratung des Forschungsteams zu den rechtlichen und ethischen Implikationen der Forschung. Des Weiteren wurden Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz formuliert und Zuarbeiten für Kleine und Große Anfragen durch Fraktionen der Hamburgischen Bürgerschaft geleistet. Dokumentenanalysen zu rechtssoziologisch-empirischen und juristischen Einzelfragestellungen wurden als Zuarbeit für die Gesamtrekonstruktion bereitgestellt. Eine rechtswissenschaftliche Auswertung des Protest- und polizeilichen Einsatzgeschehens aus versammlungsrechtlicher Perspektive steht noch aus.
4.7. Situationsanalysen
(Texgrundlage: Thomas Hoebel, Stefan Malthaner, Chris Schattka)
Die Situationsanalysen von Eskalationen während der Demonstration „Welcome to Hell“ am Donnerstag, der Blockade-Finger und der „schwarzen“ Gruppe am Freitagmorgen und im Schanzenviertel ab Freitagnachmittag bis in den frühen Samstagmorgen basieren auf sequenziellen Ereignisrekonstruktionen (SeqER). Mit dem Ziel, das betreffende Geschehen möglichst dicht zu beschreiben und vielen Erfahrungen der Beteiligten Rechnung zu tragen („Multiperspektivität“), beziehen die SeqER eine Fülle und Vielfalt von Materialien ein.
Konkret handelt es sich dabei um rund 600 öffentlich zugängliche Videos, von denen ein Zehntel einer Intensivauswertung unterzogen wurde, etwa durchgesehene 1.000 Fotografien und 35 Interviews mit involvierten Personen, darunter Polizist*innen, Demonstrierende, Anwohner*innen und Anwält*innen, die vor Ort waren. Ebenso sind eigene ethnographische Feldbeobachtungen aus dem Forschungsnetzwerk, Szene-Veröffentlichungen, schriftliche Erlebnisberichte unterschiedlichen Typs (unter anderem Social-Media-Beiträge, Newsletter, Zusendungen), situationsbezogene Tweets und journalistische Texte in die Analysen eingeflossen. Die Wortprotokolle von Innen- und Sonderausschusssitzungen der Hamburger Bürgerschaft haben ebenfalls Berücksichtigung gefunden, jedoch nur dann, wenn die Beteiligten hier Materialien zitieren oder beschreiben, die vor oder während des von uns rekonstruierten Geschehens entstanden sind.
Mit den SeqER wird sowohl methodisch als auch inhaltlich an Vorarbeiten der Modulbeteiligten zur situations- und prozessorientierten Analyse von kollektiver und politischer Gewalt angeschlosse (Aljets & Hoebel 2017; Hoebel 2014; Malthaner 2017). Das Verfahren ist „familienähnlich“ unter anderem zu sequenzanalytischen Verfahren (Abbott 1983, 1990, 1992, 1995; Maiwald 2005), zu „event catalogs“ (Tilly 2002), und zum „practice tracing“ (Pouliot 2015).
Ein Ereignis ist in dieser Perspektive die kleinste zeitliche Untersuchungseinheit zur Analyse der interessierenden größeren Episoden. Jedes Ereignis kennzeichnet einen eigenen Sinnabschnitt des interessierenden Geschehens. Die Rekonstruktion basiert im Wesentlichen auf zwei Regeln: (1) Das Geschehen soll so mikroskopisch wie möglich erfasst sein; es kann also auf Basis der verfügbaren Materialien nicht detaillierter beschrieben werden. (2) Jede Änderung der Akteurskonstellation, des Themas, der natürlichen oder baulichen Umgebung oder anderer Situationselemente wird als ein gesondertes Ereignis festgehalten.
Die entstandenen SeqER haben eine tabellarische Form. Jedes Ereignis bildet eine Zeile. Die einbezogenen Materialien ermöglichen dabei für viele Vorgänge eine „Nanoperspektive“, womit gemeint ist, dass manche Ereignissequenzen nahezu millisekündlich erfasst sind. Gleichzeitig bleiben andere Vorgänge grobkörniger beziehungsweise längere Zeiträume lückenhaft, falls keine Materialien für ihre Rekonstruktion existieren oder Quellen unglaubwürdig erscheinen. Die Situationsanalysen treffen nur Aussagen über Vorgänge, für die eine verlässliche Materialbasis existiert. Sie resultieren schließlich in dichten Prozessbeschreibungen, anhand derer Muster des Verlaufs, Umschlagpunkte und weitere Strukturen der Interaktion im Raum herausgearbeitet werden können.
4.8. Social Media
(Textgrundlage Eddie Hartmann und Felix Lang)
Die Datengrundlage für die Analyse der Twitter-Kommunikation während der Gipfelproteste bilden über 700.000 Tweets aus dem Untersuchungszeitraum 28. Juni bis 13. Juli 2017, die mit einer Twitter-Streaming-API erhoben wurden. APIs („Application Programming Interfaces“, zu deutsch „Anwendungsprogrammierschnittstellen“) dienen dem Austausch von Daten zwischen Softwarekomponenten und/oder Websites. Damit stellen sie einen wichtigen Teil der Infrastruktur von Webplattformen wie Twitter dar, unter anderem indem sie die Übermittlung von Nachrichten und Tweets organisieren. API-Zugänge ermöglichen den Programmierzugriff auf entsprechende Abläufe und erlauben es, „normalen“ User*innen verschlossene Datenpools einzusehen. Bei der Twitter-Streaming-API handelt es sich um einen von Twitter zur Verfügung gestellten Zugang, der die Speicherung von Twitter-Nachrichten (Tweets) in Echtzeit nach zu definierenden Parametern ermöglicht. Übersteigt die dadurch erfasste Auswahl an Twitter-Nachrichten einen von Twitter bestimmten Grenzwert, wird eine automatische Zufallsauswahl generiert (vgl. Morstatter et al. 2013, 2014). Für die Analyse wurde nach deutschsprachigen Tweets aus dem Untersuchungszeitraum 28. Juni 2017 bis 13. Juli 2017 gefiltert, die den Begriff „G20“ enthalten. Auf diese Weise wurde ein Datensatz mit über 700.000 Tweets erstellt.
Anschließend wurden die erhobenen Daten fünf Episoden zugeordnet (Prolog, Protestwelle, Eskalation, Schock, Epilog). Für jede Episode wurden jeweils Verfahren der quantitativen Netzwerkanalyse mithilfe des Analyseprogramms „Gephi“, ein sogenanntes Topic Modeling-Verfahren in „R“ als spezifische Methode der quantitativen Textanalyse sowie eine inhaltliche Auswertung systematisch ausgewählter Tweets durchgeführt. Topic Modeling ist ein statistisches Verfahren, das die Identifikation von Mustern gemeinsam auftretender Wörter in Textdokumenten ermöglicht. Dadurch lassen sich sogenannte „topics“ über ein exploratives Verfahren modellieren, die wie eine Art begriffliche Arbeitsgemeinschaft funktionieren und die anschließend über eine qualitative Analyse näher untersucht werden können. Durch die spezifische Methodentriangulation aus Netzwerkanalyse, Topic Modeling und fokussierter inhaltlicher Auswertung können zum einen Prozesse der strukturellen Formierung der Diskursarena Twitter im Verlauf der Gipfelproteste untersucht werden; zum anderen werden durch diese Vorgehensweise semantische Veränderungen in der diskursiven Deutung des Protestgeschehens erkennbar, die mit den strukturellen Merkmalen der Netzwerke direkt in Zusammenhang gebracht werden können.
Für jede Episode wurden zunächst Netzwerke auf Grundlage von Re-Tweets, also der Praxis des Weiterleitens von Tweets anderer Absender, erstellt. Dabei sind die Knoten des Netzwerks die tweetenden User, die Kanten stellen die Verbindungen zwischen sich retweetenden Usern dar. Um die je nach Followerzahl der User variierende Reichweite der (Re-)Tweets mitberücksichtigen zu können, wurden die Kanten nach der Followerzahl gewichtet. In den so entstandenen Netzwerkmodellen können dann verschiedene Gruppen identifiziert werden, die als Supporter-Netzwerke bezeichnet werden. Diese entstehen durch die ungefilterte Verbreitung von Beschreibungen und/oder normativen Bewertungen von Ereignissen, weshalb sie durch ein Mindestmaß an innerer Geschlossenheit gekennzeichnet sind. Indem außerdem verschiedene gewichtete Maßzahlen betrachtet werden, die die Zentralität von Akteur*innen innerhalb der Netzwerke abbilden (Eingangsgrad, Ausgangsgrad und Betweenness Centrality), können Twitter-Accounts identifiziert werden, die innerhalb dieser Cluster als Knotenpunkte fungieren. Dadurch, dass von diesen Accounts viele Re-Tweets ausgehen oder dass ihre Nachrichten per Re-Tweet besonders häufig verbreitet werden und dass sie außerdem eine große Anzahl an Followern erreichen können, tragen sie zur Etablierung spezifischer Beschreibungen und Bewertungen überproportional bei. Um daneben ein weiteres Strukturmerkmal des Twitter-Diskurses abbilden zu können, wurden zudem Netzwerke auf Grundlage von Mentions, also der direkten Bezugnahme auf andere Twitter-Konten erstellt. So können relevante Akteur*innen im Diskurs identifiziert werden, auf die sich andere in ihren Beschreibungen und Bewertungen des Geschehens beziehen.
4.9. Umkämpfte Camps
Das Modul hat mit verschiedenen Datentypen gearbeitet. Öffentlich zugängliche Daten wie die Protokolle des Sonderausschusses der Bürgerschaft zu G20 sowie einschlägige Gerichtsbeschlüsse wurden gesammelt und analysiert. Acht Expert*inneninterviews wurden durchgeführt, insbesondere mit Personen, die direkt an der Organisation von Camps und anderer Rückzugsorten beteiligt waren. Die narrativen Interviews wurden in einem offenen Prozess auf Basis eines Leitfadens geführt, transkribiert und mithilfe einer qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet. Ein*e Mitarbeiter*in des Moduls stellte ethnografische Beobachtungsdaten aus einer teilnehmenden Beobachtung zur Camporganisation zur Verfügung. Die Analyse der Daten zielte auf die Rekonstruktion des Ereignisverlaufs und der Schritte und Stufen der Auseinandersetzung.
5. Literatur
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Endnoten
[1] Mitglieder: Prof. Dr. Rafael Behr (Akademie der Polizei Hamburg), Prof.in Dr. Dr. h.c. mult. Donatella della Porta (Centre of Social Movement Studies, Scuola Normale Superiore Florenz/ipb), Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer (Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung Bielefeld), Prof. Dr. Wolfgang Knöbl (Hamburger Institut für Sozialforschung), Prof. Dr. Dieter Rucht (ipb/Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung).
[2] Das Nachdenken über Grenzsituationen der Möglichkeit von Protestforschung ist kontinuierlicher Gegenstand von Diskussionen innerhalb des IPB und führte Anlässlich der Schwierigkeiten der Befragung von Pegida-Demonstrierenden zur Einschätzung, dass unsere Forschungen oft „Protestforschung am Limit“ sind (Daphi et al. 2015; Teune & Ullrich 2015, 2018; vgl. a. Reuband 2015).
[3] Darunter der Einsatzleiter, ein Leiter eines Einsatzabschnitts, ein Leiter eines SEK, ein*e Leiter*in einer Bereitschaftspolizei, ein*e Zugtruppenführer*in der Bereitschaftspolizei, ein*e stellvertretende*r Hundertschaftsführer*in, der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, ein*e Beamt*in des höheren Dienstes der Polizei Hamburg, der Kommandant der österreichischen WEGA und ein*e leitende*r Kommunikationsbeamter*in.
[4] Eine*r Beamt*in eines LKA, eine*r Beamt*in der Bereitschaftspolizei, eine*r Streifenbeamt*in, eine*r Kommunikationsbeamt*in, eine*r Stadtteilpolizist*in sowie eine*r Polizeibeamt*in, die zugleich Mitglied von Amnesty International ist.