von Robert Matthies und Nils Schuhmacher
Titelbild: Montecruz Foto (cc-by-sa via Flickr)
Proteste fallen nicht vom Himmel. Sie entstehen, wenn es Anlässe gibt. Zugleich verweisen sie auf Aspekte jenseits dieser Anlässe: auf politische Spannungen der Gegenwart und Vergangenheit in anderen Themenfeldern sowie auf soziale Alltagspraktiken, in denen Menschen miteinander verbunden sind. In ihnen werden Gemeinschaft, Abgrenzung nach außen und innen erlebt sowie bestimmte Sichtweisen und Fertigkeiten entwickelt. Dies ist der Erfahrungsraum, in dem sich die Handlungsfähigkeit und Mobilisierungsstärke von Protestakteuren entfaltet.
Spannungen auf der weltpolitischen Bühne, mit denen der G20-Gipfel personell und thematisch verbunden ist, tauchen am Horizont dieses Erfahrungsraums auf. Das Zustandekommen von Protest, seine Größe und Vehemenz können mit ihnen aber nicht erklärt werden. Auch der Verweis auf den ‚Eventcharakter‘, der Gipfelproteste mutmaßlich besonders attraktiv macht, greift zu kurz. Denn das Ereignis ist in Entstehung, Verlauf und Charakter ein offenes Geschehen und stark von situativen Aspekten – Interaktionen, Dynamiken und Zufällen – geprägt. Für das Verständnis ist es deshalb notwendig, den Blick auf die konkreten lokalen Gegebenheiten zu werfen. Diese sind infrastruktureller Art (Planungen und Abläufe werden immer durch die Möglichkeiten beeinflusst, die der jeweilige Raum und Rahmen bietet). Sie finden sich zugleich in einem sozialen Gedächtnis, das die Repertoires des Protests beeinflusst.
1. Teilaspekte des Protestkontextes
Zusammengenommen ergibt sich aus diesen Aspekten keine geschlossene ‚Vorgeschichte‘, die ein Ereignis kausal zu erklären vermag. Wie sich aber ein bestimmtes Repertoire an Praktiken in einem Ereignis ausdrückt; welche Protestformen denk- und umsetzbar erscheinen; wie sich das Protestspektrum zusammensetzt; welche Konfliktlinien von den Akteuren abgerufen und aufgegriffen werden: All dies ist stark vom lokalen historischen Kontext abhängig. Auf dieser Linie nehmen wir im Folgenden eine lokalgeschichtliche Kontextualisierung des G20-Protests vor, die die Besonderheiten und die Komplexität des Protestereignisses in seiner zeitlichen und örtlichen Einlagerung illustriert. Hierbei konzentrieren wir uns auf drei Aspekte: Den Kampf um Raum, den Umgang mit Dissens und die Existenz bestimmter Milieus, die Protest begünstigen und prägen.
1.1. Der Kampf um Raum
Die G20-Proteste besaßen in symbolischer und praktischer Hinsicht eine räumliche Dimension. Deutlich wird dies an den Einschränkungen des Demonstrationsrechts und den Versuchen, diese Einschränkungen zu unterlaufen. Die räumliche Dimension zeigt sich aber auch in den Verweisen eines Teils des Protestspektrums auf die örtliche Nähe des Gipfels zu Quartieren, die als ‚alternativ‘ geprägt bezeichnet werden – eine Nähe, die als staatliche Machtdemonstration, als besondere Provokation, aber auch als Ansporn aufgefasst wurde. Wie ‚alternativ‘ geprägt St. Pauli, das Schanzenviertel und das Karolinenviertel heute noch sein mögen und was eine ‚alternative’ Prägung im Detail letztlich ausmacht, kann diskutiert werden. Unstrittig ist allerdings, dass es sich bei diesen Vierteln um Areale mit einer langen Geschichte von Kämpfen um Räume handelt. Raumbezogene Kämpfe verweisen auf Haus- und Platzbesetzungen (Baer/Dellwo 2013; Sichtermann/Sichtermann 2017) zur Schaffung von Möglichkeiten zur kulturellen und politischen Kommunikation und zur Realisierung alternativer Lebensformen. Verbunden sind sie mit so unterschiedlichen Orten wie der Hafenstraße (Herrmann u.a. 1987; Kerner 1989; Lehne 1994; Borgstede 2010), der Roten Flora (Haunss 2000; Blechschmidt 2009; Hoffmann 2011; Birke 2014b) und dem Bauwagenplatz Bambule.
Diese Orte sind Kristallisationspunkte von Auseinandersetzungen, die in den 1980er-Jahren mit dem Kampf um ‚unsere Viertel‘ begannen und sich in den 1990er-Jahren in Kämpfen gegen ‚Gentrifizierung’ fortsetzten (Dangschat 1989; Blechschmidt 1998; Birke 2014a, 2014b; Naegler 2012, 2013; Siebecke 2012). Auch wenn diese Art der quartiersbezogenen Raumpolitik mittlerweile durch Kämpfe um ein generelles „Recht auf Stadt” und Teilhabe weitgehend überlagert sind – einen wichtigen Impuls stellt die Gründung des gleichnamigen Netzwerks im Jahr 2009 dar (Füllner/Templin 2011) – bieten die genannten Beispiele und damit verbundenen Erinnerungen doch weiterhin positive Bezugspunkte für die Abgrenzung von einer vor allem an ökonomischen Verwertungsprinzipien orientierten städtischen Politik.
Insbesondere die innerstädtischen Hamburger Quartiere sind bereits seit den 1970er-Jahren Gegenstand von Konzepten und Strategien einer optimierenden Stadtentwicklungspolitik (Grüttner 1976; Volkmann 2006). Die ab den 1980er-Jahren in wechselnde Leitbilder – „Unternehmen Hamburg” (1983-1994), „Zukunftsfähiges Hamburg” (1994-2001), „Wachsende Stadt“ (2001-2008), „Wachsen mit Weitsicht“ (seit 2008) – gegossenen Visionen setzten unterschiedliche Schwerpunkte. Sie sind im Ganzen aber verbunden mit einer Politik, die zentral auf die Schaffung von Standortvorteilen im globalen Städtewettbewerb setzt. Ihre Kennzeichen sind eine starke Orientierung an wirtschaftlichen Interessen, die Erschließung der innerstädtischen Quartiere für ökonomisch potentere Klientele, zunehmend auch die Einbeziehung und Vernutzung weicher Standortfaktoren in einer aufgefächerten Landschaft kultureller Angebote und Szenen.
In diesem Zusammenhang stehen jüngere stadtentwicklungspolitische Maßnahmen der Sanierung und der Errichtung neuer Stadtteile (Hafen-City), der „Sprung über die Elbe“ sowie Prestigeprojekte, etwa die Elbphilharmonie oder die – an einem Volksentscheid gescheiterte – Olympiabewerbung für 2012. Letztlich gehören dazu auch Versuche, kreative Potenziale ‚bunter’ Viertel und ‚alternativer’ Kultur in das Bild von der ‚Marke Hamburg’ einzubeziehen.
1.2. Der Umgang mit Dissens
Mit den genannten (und weiteren) Kämpfen um Raum wurde auf politische Entwicklungen und Entscheidungen reagiert. In Hamburg bildete sich dabei auf staatlicher Seite ein spezifischer, in vielen Jahrzehnten sozialdemokratischer Regierung eingeschliffener Umgang mit Protest und seinen Träger*innen heraus. Er lässt sich im Gesamten als ein „Mosaik aus Repression und Einhegung“ (Birke 2014:b 97) bezeichnen, das auf einer Balancierung verschiedener Strategien beruhte. Dazu gehörten auf der einen Seite integrative Momente, wie die Legalisierung besetzter Häuser und die präventiv ansetzende Förderung von Wohnprojekten. Auf der anderen Seite stand eine von Härte geprägte ‚Hamburger Linie’ des Policings von Protest, die sich etwa in einer Null-Toleranz-Strategie gegenüber neuen Hausbesetzungen ausdrückte.
Dazwischen fanden und finden sich – strategisch nicht immer erklärbare – Gesten der Toleranz, etwa gegenüber der Roten Flora oder einzelnen Bauwagenplätzen.
Zu dieser spezifischen Kultur gehörte letztlich auch, dass der Polizei relativ große Spielräume zum Umgang mit nicht integrierbar erscheinendem Protest und zum Austarieren von Grenzen ordnungspolitischen Handelns garantiert wurden. Deren Überschreitung wurde – wenn überhaupt – immer erst dann politisch aufgearbeitet, wenn massive öffentliche Kritik entsprechenden Druck aufbaute. Zu denken ist in diesem Zusammenhang an die Stunden währende Freiheitsberaubung von hunderten Demonstrant*innen 1986 (‚Hamburger Kessel‘) oder an den sog. ‚Polizeiskandal’ von 1994, aus dem 1998 die Einrichtung der (2001 bereits wieder abgeschafften) Polizeikommission folgte.
Mit dem Ende der langen Tradition sozialdemokratischer Regierungen durch einen von CDU und Partei Rechtsstaatlicher Offensive gebildeten Senat in 2001 traten politisch und polizeilich die repressiven Anteile dieser Hamburger Linie noch stärker in den Vordergrund, während integrative Anteile in den Hintergrund rückten. In diesem Zuge kam es zu einer Aufwertung der Polizei als innenpolitisches Werkzeug und zu einer Ausweitung polizeilicher Gestaltungsmacht, die nun auch offen politisch kommuniziert wurde. Nicht zuletzt fallen in jenen Zeitabschnitt personelle Neustrukturierungen innerhalb der Polizei, die Befürworter einer harten Linie, etwa Hartmut Dudde, in höhere Positionen brachten.
Feststellen lässt sich ab dieser Phase eine zunehmende und bis heute ungebrochene Tendenz zur „Inszenierung militarisierter Polizeigewalt als Akt der Demonstration der – zumindest physischen – Überlegenheit gegenüber denen, die das staatliche Gewaltmonopol in Frage stellen“ (Naegler 2013: 206). Mit dem Übergang auf Schwarz-Schill nahm ein restriktiverer Umgang mit Demonstrationen zu, der sich etwa in einer verschärften Beauflagung sowie einem rigideren Vorgehen bei entsprechenden Abweichungen ausdrückte. Der erneute Regierungswechsel zur SPD änderte an dieser Linie wenig. Zwar wird Protesten und Protestmilieus mit unterschiedlichen Strategien begegnet, die von Duldung (wie in Bezug auf das traditionell ohne Anmeldung veranstaltete Schanzenfest) bis zur massiven Intervention (bei Demonstrationen oder in der Ausrufung von ‚Gefahrengebieten‘) reichen. Insgesamt aber dominiert eine von Kontinuität geprägte harte Linie.
Der polizeiliche bzw. sicherheitspolitische Umgang mit Dissens hatte und hat dabei stets eine raumbezogene Komponente. Insbesondere die Rote Flora ist dabei seit Jahrzehnten ein Bezugspunkt polizeilichen Handelns. Anfang der 1990er-Jahre sorgte die Sondereinsatzgruppe „16E“ des Polizeireviers Lerchenstraße durch gewalttätige Einsätze gegen die linke Szene im Schanzenviertel für Schlagzeilen, im sogenannten „Plattenleger“-Prozess gegen Aktivisten der Flora 1991 gerieten Verfassungsschutz und LKA unter Verdacht vorsätzlicher falscher Anschuldigungen, seit der Besetzung richteten sich Einsätze diverser verdeckter Ermittler*innen gegen die Flora und angrenzende politische Spektren und überschritten dabei, wie mittlerweile offiziell eingestanden, auch in hohem Maße rechtlichen Grenzen.
Zugleich wurde durch polizeiliche Vorgehensweisen und Kontrollmechanismen auch Innovationsdruck erzeugt, der zu Veränderungen und Erweiterungen des vorhandenen Protestrepertoires führte.
1.3. Die Existenz bestimmter Milieus
Der Kampf um Raum und der Umgang mit Dissens besitzen eine soziale Rahmung. Für den hier interessierenden Zusammenhang bedeutsam ist, dass in Hamburg verschiedene politische und kulturelle Milieus existieren, die einen spezifischen Resonanzraum für Konflikte bilden und aus denen sich je nach Anlass unterschiedlich zusammengesetzte ‚kritische Öffentlichkeiten’ rekrutieren.
Der Begriff des Milieus ist hier weit gefasst. Er umfasst heterogene und sehr bewegliche Konstellationen von Szenen, Sub-, Gegen- und Jugendkulturen; ein Netz von Orten, eine Gesamtheit von ‚gesellschaftskritischen’ Kunst- und Kulturschaffenden; unterschiedliche soziale und kulturelle Praktiken und Ressourcen, die in das praktische Arsenal von Protest einfließen können.
Diese Milieus und ihre Untergliederungen sind mal mehr, mal weniger politisch geprägt. Auch die politischen Milieus lassen sich unterschiedlichen Schattierungen linker und alternativer Orientierung zuordnen. Sie überlappen sich teilweise, sind insgesamt aber mehr dadurch gekennzeichnet, dass sie im Alltag nebeneinander existieren und in temporären Allianzen des Protests zusammenkommen.
Zu den ‚Eigentümlichkeiten’ des lokalen Kontextes gehört es dabei, dass manche dieser Milieus bis heute eine starke Verankerung in den einst vergessenen Innenstadtquartieren wie St. Pauli, dem Karolinen- und dem Schanzenviertel besitzen; sei es, weil in diesen Vierteln bis heute ein Teil der Angehörigen dieser Milieus lebt, sei es, weil in diesen Vierteln und um sie herum entsprechende Treffpunkte liegen: Kneipen, Konzertorte, autonome Zentren, Wohnprojekte, das Stadion des FC St. Pauli. Bedeutsam ist auch, dass diese Milieus zum Teil einem Gentrifizierungsdruck unterliegen und aus den genannten Vierteln abwandern, zugleich am Rande aber auch neue Orte entstehen, an denen sich wiederum neue Milieus bilden. Ein Beispiel dafür ist das Gängeviertel. 2009 besetzten rund 200 Künstler*innen das Ensemble historischer Häuser nahe der Innenstadt und forderten sowohl Raum für Kreative als auch den kompletten Erhalt der historischen Gebäude. Die Initiative namens ‚Komm in die Gänge’ setzte sich zum Ziel, „ein selbstverwaltetes, öffentliches und lebendiges Quartier mit kulturellen und sozialen Nutzungen“ (vgl. Twickel 2010) zu schaffen. Mit der Legalisierung des Komplexes ist hier ein weiterer Knotenpunkt für verschiedene Szenen zwischen Kunst und Politik entstanden, den es in dieser Form bis dahin nicht gab.
Mit Blick auf Protest lässt sich darüber hinaus festhalten: Auf der einen Seite besitzt ein Teil der politischen bzw. für politische Aktionen mobilisierbaren Milieus keine diesbezügliche räumliche Verankerung. Auf der anderen Seite existieren jenseits der raumgebundenen politischen Kämpfe noch weitere Formen des place making, also der Aneignung und Markierung öffentlicher Orte, die zunächst einmal nicht ausdrücklich politisch sind (vgl. auch Lampe 2017). Insbesondere der Stadtteil St. Pauli ist ein Terrain, auf dem sich unterschiedliche Milieus verdichten, die etwa mit musikbezogenen Szenen wie Hip-Hop (Munderloh 2014) oder der Fanszene um den FC St. Pauli verbunden sind (Schmidt-Lauber 2008) und sowohl Kulisse als auch Personal von Protesten in diesen Sozialräumen bieten.
Insgesamt verfügen diese Milieus über ein breites Spektrum an Repertoires von Praktiken, das an ihre jeweiligen Kämpfe, Erfahrungen und Geschichten anknüpft. Mit persönlichen Kontakten, praktischen Erfahrungen und Wissen – über das Terrain, das polizeiliche Gegenüber, das Organisieren von Aktionen, den Umgang mit Situationen und die adäquate Form der Außendarstellung – sind verschiedene Aspekte genannt, die die Entstehung und den Verlauf von Protesten beeinflussen.
Zu erwähnen ist schließlich auch der Umstand, dass sich Kämpfe und Selbst-, aber auch Fremddarstellungen in einem medialisierten Raum abspielen, in dem der Protest und Maßnahmen zu seiner Kontrolle um Aufmerksamkeit ringen. In Hamburg findet diese Auseinandersetzung vor dem Hintergrund einer über Jahre eingespielten, von einer Handvoll Medien geprägten öffentlichen Landschaft statt. Die im Laufe der Zeit an verschiedenen Protesten beteiligten Akteure wissen dabei um die Routinen der Berichterstattung und die medialen Erwartungen und richten ihre Strategien und Praktiken an diesen antizipierten Erwartungen aus. Diese Wechselwirkung von medialem Resonanzraum und Strategien der Selbstdarstellung prägt die Art und Weise, wie Protestereignisse sich im sozialen Gedächtnis der Beteiligten, aber auch einer breiteren Stadtöffentlichkeit niederschlagen.
2. Soziales Gedächtnis und Protestrepertoires
Die G20-Proteste waren in starkem Maße durch das Zusammenwirken dieser drei Aspekte geprägt. Für ein Verständnis der spezifischen Verbindung von sozialem Gedächtnis und Repertoires werden im Folgenden zwei Kulminationspunkte stadtpolitischer Konflikte der jüngeren Vergangenheit herausgegriffen. Sie unterscheiden sich nach Thema, Zeitpunkt und Ausgangslage, zeigen aber bereits die Grundzüge jenes ‘Reiz-Reaktions-Musters’, das auch in den G20-Protesten wirksam wurde.
2.1. Die Räumung des Bauwagenplatzes Bambule und die Kampagne gegen Innensenator Schill
Einen wesentlichen Einschnitt in der jüngeren lokalen Konfliktgeschichte stellen die Auseinandersetzungen um die Räumung des Bauwagenplatzes Bambule im Karolinenviertel dar. Dieser wurde im November 2002 unter großen, auch bundesweiten Protesten von der Polizei geräumt, nachdem der Hamburger Senat mit Innensenator Ronald Schill entschieden hatte, diese Wohnform nicht länger zu dulden.
Das Ereignis war von einer dreifachen Ausweitung charakterisiert, die in dieser Form neuartig war. Erstens kam es zu einer zeitlichen Ausweitung. Der Konflikt entstand vor dem Hintergrund eines allgemeinen Unbehagens gegenüber der Regierungsbeteiligung der autoritär-populistisch ausgerichteten Partei Rechtsstaatlicher Offensive. Er baute sich über einen längeren Zeitraum auf, nachdem Innensenator Schill angekündigt hatte, die Existenz von Bauwagenplätzen zu beenden. Es kam zur Räumung und in deren Folge zu einem mehrere Wochen umfassenden Protestgeschehen mit einer Reihe von Demonstrationen und Aktionen. In deren Verlauf kam es auch zu massiven Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Protestierenden, weil der Innensenator in der Beilegung des Konflikts auf eine polizeiliche Lösung setzte.
Zweitens kam es zu einer thematischen Ausweitung. Es ging bereits zu Beginn der Proteste nicht allein um den Bauwagenplatz und die Verteidigung eines (Frei-)Raums. Vielmehr wurde die Räumung zum zentralen Symbol autoritärer Formierung und der Vorstellung, politische Konflikte polizeilich lösen zu können. Aus der Solidaritätsbewegung für den Bauwagenplatz wurde eine Anti-Schill-Kampagne, die sich gegen Law-und-Order-Politik, Null-Toleranz-Konzepte und den Einsatz der Polizei zur Kontrolle gesellschaftlicher Konflikte in der Stadt wendete.
Im Zuge der zeitlichen und thematischen Ausweitung der Proteste kam es auch zu einer Ausweitung des Akteursmilieus. Viele Bewohner*innen des Karolinenviertels empfanden den bereits seit 1993 bestehenden Bauwagenplatz ausdrücklich als Teil eines diversen Viertels und nicht als belastende Störung; die polizeilichen Aktionen kritisierten sie als überzogen. Anwohner*innen und lokale Einzelhändler*innen solidarisierten sich in einem offenen Brief und mit Transparenten, bekannte Künstler*innen erklärten sich ebenfalls solidarisch. In großen Teilen der Stadtöffentlichkeit war die Räumung umstritten.
Begleitet wurden die anschwellenden wochenlangen Proteste vom Radio-Sender Freies Sender Kombinat (FSK), der jeden Tag Liveberichte von der Straße, Reportagen und Diskussionssendungen zum Thema sendete und so dafür sorgte, dass ein breites und heterogenes Publikum informiert und mobilisiert wurde, dass an szene-internen Diskussionen sonst nicht beteiligt ist. Nach Fußballspielen des FC St. Pauli formierten sich regelmäßig größere Demonstrationen, in deren Verlauf es immer wieder zu Auseinandersetzungen mit der Polizei kam.
Zur Spezifik wurde, dass die Polizei zunehmend nicht nur einer klassischen Protestklientel gegenüberstand, sondern auch mit neuen Protestpublikum konfrontiert wurde, welches gerade durch ihr Auftreten mobilisiert wurde. Dem Senat wurde vorgeworfen, für die Eskalation verantwortlich zu sein. „Man will”, so fasste es Fritz Sack (2002) zusammen, „Staat zeigen und greift die ‘offenen Szenen’ an”. Besondere Empörung rief dabei hervor, dass die in den Raum eingreifende politisch-polizeiliche Strategie darin gipfelte, die Bewohner*innen aus der Stadt zu weisen.
Die Proteste rund um die Räumung der Bambule waren für die beteiligten Milieus ein besonderer Erfahrungsraum und ein Labor für neue Protestkonstellationen. Der Protest besaß zwar im Kern eine noch ‚klassische’ räumliche Anlage, zugleich deuteten sich in ihm deutliche Verschiebungen an, die Ausrichtungen und Handeln von Protest in späteren Konflikten nachhaltig prägten. Zum einen wurde diese zunächst als Einzelkonflikt in Gang gesetzte Auseinandersetzung zu einer Bühne weitreichender und grundlegender Aushandlungen über die Frage, wie Stadt und öffentlicher Raum aussehen (sollen) und wer darin welche Rechte besitzt. Zum anderen wurde die Erfahrung gemacht, dass polizeiliche Lösungsansätze in dynamischen Konfliktverläufen und uneinschätzbaren Settings schnell an Grenzen geraten; mehr noch: dass klassische, auf die temporäre Kontrolle von Raum abzielende Polizeistrategien unter bestimmten Bedingungen das genaue Gegenteil von dem erreichen, was sie erreichen sollen. Dabei spielte auch eine maßgebliche Rolle, dass die Proteste heterogen und fluide waren, sich aus unterschiedlichen Milieus speisten und verschiedenste Protestformen auf eine neue Weise miteinander verknüpften. Protesttaktiken, die das Prinzip der einschließenden Begleitung von Demonstrationen durch die Polizei unterliefen und auch Unkontrollierbarkeit und Dynamik setzten, entwickelten sich in diesem Konflikt genauso wie ‚selbstorganisierte’, niedrigschwellige Praktiken des Herumstehens im sozialen Raum (das spätere ‚Cornern’) durch ihre Verbindung mit einem Protestszenario zu politischen Gesten wurden.
2.2. Esso-Häuser, Flora, Lampedusa
Ein weiterer zentraler Kulminationspunkt war die polizeiliche Auflösung einer Demonstration für den Erhalt der Roten Flora, ein Bleiberecht für Flüchtlinge, insbesondere der Gruppe Lampedusa in Hamburg, und gegen Rassismus und “Gentrifizierung”, festgemacht insbesondere am Abriss der sogenannten Esso-Häuser auf der Reeperbahn im Dezember 2013. Bereits im Vorfeld erklärte die Polizei die Innenstadt für die Zeit von 14 bis 23 Uhr zum Gefahrengebiet. Dadurch wurde ihr – mit Rückendeckung durch die Politik – ermöglicht, verdachtsunabhängige Durchsuchungen durchzuführen, Platzverweise auszusprechen und Ingewahrsamnahmen zu vollziehen.
Am Mittag des 21. Dezember führte die Flüchtlingsinitiative Lampedusa in Hamburg eine Kundgebung mit rund 900 Teilnehmer*innen durch. Kurz darauf versammelten sich unter dem Motto „Die Stadt gehört allen! Refugees, Esso-Häuser und Rote Flora bleiben“ zwischen 7.000 und 10.000 Menschen auf dem Schulterblatt im Schanzenviertel. Unmittelbar, nachdem der Demonstrationszug in Bewegung gesetzt hatte, wurde er von der Polizei aufgestoppt. Nach einer halben Stunde, in deren Verlauf es immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kam, wurde die Demonstration von der Polizei schließlich aufgelöst. Es kam zu einem massiven Einsatz von Schlagstöcken, Wasserwerfern und Pfefferspray, durch Abriegelung der Seitenstraßen entstand ein Polizeikessel, in dem sich mehrere tausend Menschen befanden, darunter auch viele Schaulustige und Unbeteiligte. Hunderte von Menschen wurden zudem in weiteren Kesseln festgehalten.
In der Folge kam es im Verlauf des Tages zu weiteren spontanen, unangemeldeten Demonstrationen mit bis zu 1000 Teilnehmer*innen, auf die wiederum ausschließlich polizeilich reagiert wurde. Damit lag das Handeln der Polizei auch auf der Linie der von ihr selbst ausgegebenen Prognose, nach der auf der Demonstration mit einem hohen Potenzial an gewaltbereiten Demonstrant*innen zu rechnen sei.
2.2.1. Die Einrichtung von Gefahrengebieten
Rund zwei Wochen nach der Demonstrationen vom 21. Dezember richtete die Hamburger Polizei ein in der Stadt kontrovers diskutiertes Gefahrengebiet ein, das die Stadtteile St. Pauli und Sternschanze, Altona-Altstadt sowie große Teile von Altona-Nord einbezog. Begründet wurde die Einrichtung mit gewalttätigen Angriffen auf Polizeibeamte und Polizeieinrichtungen, insbesondere mit einem – wie sich letztlich herausstellte, nicht stattgefundenen – Angriff auf die Davidwache im Stadtteil St. Pauli am 3. Januar 2014. Die Einrichtung von Gefahrengebieten ist in Hamburg seit 1995 Praxis, drei polizeiliche Sonderrechtszonen bestehen in den Stadtteilen St. Pauli, Altona-Altstadt und St. Georg dauerhaft. In diesem Ausmaß aber war die Einrichtung eines Gefahrengebietes neu.
Nach der Einrichtung des Gefahrengebietes kam es dort fast täglich zu Kundgebungen, die häufig durch massive Polizeieinsätze behindert wurden. Nach diesen Protesten und um negative Auswirkungen auf das Image der Stadt zu vermeiden, wurde das Gefahrengebiet am 9. Januar auf drei “Gefahreninseln” rund um die Polizeikommissariate 15, 16 und 21 verkleinert. Am 13. Januar wurden auch diese vorläufig aufgehoben. Fünf Tage später demonstrierten mehrere Tausend Menschen gegen die Einrichtung und die polizeilichen Maßnahmen, die damit verbunden waren, insbesondere die verdachtsunabhängigen Kontrollen, denen etliche, auch unbeteiligte Bewohner*innen immer wieder ausgesetzt waren. Zum Symbol der Proteste wurde eine Toilettenbürste, nachdem in einem Fernsehbericht die Sicherstellung einer solchen Bürste als Waffe gezeigt worden war. 2015 erklärte das Hamburgische Oberverwaltungsgericht die Einrichtung der Gefahrengebiete schließlich für verfassungswidrig.
Am Konfliktzusammenhang um die Demonstration vom Dezember 2013 und die kurze Zeit später eingerichteten Gefahrengebiete sind zwei Aspekte bedeutsam, die letztlich auch das Protestereignis G20 prägen sollten. Zum einen war eine zentrale Erfahrung der Demonstration, dass das Handeln der Polizei unter dem damaligen Einsatzleiter Hartmut Dudde politisch gedeckt und der Diskurs der Polizei in weiten Teilen politisch und medial übernommen wurde. Dies setzte sich – zumindest auf der Ebene der Legislative – auch im Umgang mit den Protesten gegen die Einrichtung der Gefahrengebiete fort. Zum anderen zeigte sich in den Protesten gegen die Einrichtung der Gefahrengebiete dieselbe Dynamik der Ausweitung, die bereits in den Bambule-Protesten sichtbar wurde – mit dem zentralen Unterschied, dass der Protest auf ein nunmehr eingeübtes und diversifiziertes Repertoire zurückgreifen konnte und auch von der Erfahrung profitierte, dass polizeiliche Strategien der Härte unter den gegebenen lokalen Bedingungen nicht zur Einschüchterung des Protests, sondern zu dessen Ausweitung führen.
In diesem Sinne trug der politisch-polizeiliche Umgang mit den Protesten nicht zu einer Deeskalation, sondern gerade zu ihrer Entfaltung bei. Die polizeiliche Strategie der Bestimmung „kontrollwürdiger“, weil potenziell kriminalitäts- bzw. konfliktbelasteter Räume (Belina 2005; Naegler 2013: 203) beinhaltete auch die Identifizierung entsprechender verdächtiger Personenkreise. Nicht in Rechnung gestellt wurden allerdings die Solidarisierungs-, Empörungs- und Anziehungseffekte, die zu einer Ausweitung des Protestspektrums und auch dazu führten, dass das Versprechen der räumlichen Kontrolle nicht mehr einlösbar war. Die politische Strategie einer Verpolizeilichung des Umgangs mit Protest beinhaltete den weitgehenden Verzicht auf deeskalierende Handlungsansätze und stattete die Polizei mit einem weitreichenden Legitimationsvorschuss aus. In diesem Zuge wurde die Polizei faktisch zum zentralen politischen Akteur des Geschehens. Nicht berücksichtigt wurde, dass dies wiederum neue Empörung, aber auch eine starke Konzentration auf diese Konfliktlinie auf Seiten eines Teils des diffusen Protestpersonals mit sich brachte.
3. Fazit
Die Proteste gegen den G20-Gipfel in Hamburg sind in ihrem Verlauf nicht zu verstehen, ohne die spezifischen lokalen Rahmungen in den Blick zu nehmen. Das Protestereignis war außeralltäglich, weil es sich auf ein besonders dimensioniertes politisches Treffen bezog; es hatte mit dem Alltag vor Ort auch deshalb nur bedingt zu tun, weil sich an den Protesten Menschen aus dem In- und Ausland beteiligten. In einer lokalgeschichtlichen Perspektive war das Ereignis in seiner konkreten Ausgestaltung jedoch auch eine weitere Etappe eines über einen Zeitraum von rund 15 Jahren zu beobachtenden Prozesses. Das praktische Repertoire der verschiedenen Protestmilieus, ihre Kommunikationsstrategien, die konkrete personelle Zusammensetzung der einzelnen Aktionen sowie ihre vielfältigen Verbindungen untereinander, aber auch die Strategien und Reaktionen von Seiten der Politik und der Polizei: All diese Aspekte lassen sich auf die spezifische Ausgestaltung von Kämpfen um Räume, den politisch-polizeilichen Umgang mit Dissens und die Existenz bestimmter Milieus beziehen, die im G20-Protest zum Ausdruck kamen.
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