von Roman Thurn, Fabian Frenzel und Michael Plöse
ABSTRACT
In diesem Text sollen die wesentlichen Etappen der juristischen Auseinandersetzung um das Antikapitalistische Protestcamp auf der Elbhalbinsel Entenwerder dargestellt werden. Wir werden zeigen, dass die Hamburger Gerichte wie auch das Bundesverfassungsgericht nicht nur ohne überzeugendes Ergebnis um eine scharf konturierte Einordnung neuer Protestformen ringen, sondern auch, dass die von der Polizei vorgebrachten Sicherheitsbedenken in dieser Auseinandersetzung allenfalls eine untergeordnete Rolle spielen. Titelbild: Robert Anders (cc-by via Flickr) |
»Als in den ersten kaiserlosen Tagen die Arbeiter aus den äußeren Bezirken nach dem Zentrum marschierten, da geschah es, daß ein langer Zug singender Arbeiter […] über einen gepflegten grünen Rasen marschierte. Einem Arbeiter, vielleicht einem Gärtner, tat die Zertrampelung des Rasens leid. Er stellte sich auf den Fahrdamm, hielt seine Hände als Schalltrichter vor den Mund und schrie: ›Genossen, wir wollen nicht auf den Rasen treten.‹ Und die vernünftige Schar der gutmütigen Rebellen sah die Nützlichkeit dieser Maßnahme ein, man umging das Rasenstück und ließ es unversehrt. Eine revolutionstrunkene Masse war das nicht.«
Stefan Großmann: Ich war begeistert. Lebenserinnerungen.
Berlin: S. Fischer 1930, S. 268.
Einleitung *
Der politische und rechtliche Streit um Protestcamps war einer der zentralen Konflikte während des G20-Gipfels in Hamburg. Bereits vor dem Beginn des Gipfeltreffens der Regierungschefs der 20 selbsternannt wichtigsten Industriestaaten der Welt am 7. Juli eskalierte dieser Streit in einem Polizeieinsatz. In diesem Text analysieren wir die rechtliche Auseinandersetzung um das Antikapitalistische Camp. Zwei Konfliktlinien waren im Streit um die Protestcamps zentral: Erstens stellte sich die Frage, ob und inwiefern Camps als Orte der öffentlichen Meinungsbildung und -kundgabe gelten, also nicht lediglich als Schlafstätten zu betrachten sind, und damit dem Schutz der Versammlungsfreiheit (Art. 8 Grundgesetz) unterstehen. Zweitens zog die Polizei eine weitere Konfliktlinie, indem sie kolportierte, dass die Camps als Ausgangspunkte für Störungen, Blockaden und Gewalttaten und den Störern als Rückzugsorte dienen würden, weshalb diese bereits im Vorfeld zu unterbinden seien. Eine Versammlung nach Art. 8 kann allerdings gemäß dem sogenannten Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG)[1] nicht ohne weiteres verboten werden – selbst wenn eine Gefahrenprognose vorliegt, derzufolge vereinzelte Störungen zu erwarten sind. Daher war der juristische Konflikt um die Camps bei G20 vorgezeichnet. Die Organisator*innen des Camps zielten auf eine versammlungsrechtliche Anerkennung und Anmeldung, während die zuständigen Behörden genau diese verhindern wollten. Die Behörden planten dies frühzeitig: Wie aus den Protokollen des Sonderausschusses hervorgeht, teilte der Hamburger Polizeipräsident Ralf Martin Meyer bereits im Oktober des Jahres 2016 den Hamburger Bezirken mit, dass für die Anmeldung von Protestcamps Sondernutzungserlaubnisse bei den zuständigen Ämtern einzuholen seien. Protestcamps seien damit nicht nach Versammlungsrecht zu behandeln, das Demonstrationen gegenüber sonstigen Veranstaltungen privilegiert und sie insbesondere von dem Erfordernis der Einholung von Sondernutzungserlaubnissen (für Straßen, Grünflächen oder Lärmentwicklung) befreit. Zugleich wurde so eine gerichtliche Durchsetzung der Camps unter Berufung auf die Versammlungsfreiheit erschwert.
In der Folge klagten die Camp-Organisator*innen[2] auf eine Anerkennung des Camps als eine durch Art. 8 geschütze Veranstaltung. In den folgenden mehrinstanzlichen Auseinandersetzungen zeigte sich, dass die Gerichte Schwierigkeiten haben, Camps als neue Protestform und damit als politische Versammlungen anzuerkennen. Zugleich ist deren genuin politisierende und symbolische Bedeutung gerade auch in internationalen Kontexten (von der Occupy-Bewegung bis zu den Platzbesetzungen in Kairo und Tunis während des ,Arabischen Frühlings‘) so offensichtlich, dass sich der Streit von der Frage des ,ob‘ auf eine Problematisierung des ,wie‘ und damit auf eine Infragestellung der Notwendigkeit und des Umfangs der Protestmittel und Ausdrucksformen im Einzelnen verschob. Die Exekutive erhielt durch diese judikative Unschärfe im Umgang mit Camps relativ umfangreiche repressive Spielräume, die in Hamburg durch die Polizei auch genutzt wurden. Wir zeichnen die Auseinandersetzung hier nach und fragen, welche Folgen diese exekutiven Spielräume für den grundrechtlichen Schutz der Versammlungsfreiheit in Hamburg hatten.
24. April – 7. Juni: Sind Camps Orte des Protests oder billige Schlafplätze?
Am 24. April 2017 wurde das Antikapitalistische Protestcamp als eine Dauerkundgebung unter dem Titel Alternativen zum Kapitalismus leben und sichtbar machen auf dem Hamburger Stadtpark für den Zeitraum zwischen dem 30. Juni und dem 9. Juli 2017 angemeldet. Entsprechend dem Brief des Polizeipräsidenten Meyer erklärte sich tags darauf die Versammlungsbehörde für nicht zuständig und verwies den Anmelder an das Bezirksamt, welches ihm am 12. Mai aufgrund mangelnder Schutzkonzepte für die Grünflächen, des Entzugs derselben für die Allgemeinheit sowie fehlender Sicherheitskonzepte die Anmeldung des Camps untersagte.
Der Veranstalter versuchte daraufhin, vor dem Verwaltungsgericht Hamburg (VG) die Duldung des Protestcamps zu erwirken: Da das Camp als Versammlung angemeldet wurde, sei das Bezirksamt für den Erlass eines Verbots nicht zuständig. Ein solches könne nach § 15 Abs. 1 VersG nur von der Versammlungsbehörde verfügt werden und setze eine unmittelbare Gefährdung für die öffentliche Sicherheit und Ordnung voraus. Das VG gab dem Antrag des Veranstalters auf Eilrechtsschutz am 7. Juni statt (19 E 5697/17)[3]. Es erklärte, dass es bei der Beurteilung der Frage, ob das Camp in den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit falle und damit der Anwendbarkeit des Versammlungsrecht unterliege, entscheidend auf das „Gesamtgepräge“ der Veranstaltung ankomme. Der Veranstalter hatte argumentiert, dass das Camp als Ganzes einen Protest gegen den G20-Gipfel darstelle und bereits alternative, nicht durch den Kapitalismus geprägte Formen des Zusammenlebens sichtbar machen wolle. Dies komme gerade darin zum Ausdruck, dass im Camp die Versorgung der Menschen ohne Tauschlogik und Profit gewährleistet und vorgelebt sowie auf ökologische Aspekte, Nachhaltigkeit, Müllvermeidung und tierleidfreie Ernährung geachtet werde. Dieser Argumentation folgte das Gericht zwar nicht weiter, konzedierte aber, dass das Camp „selbst Ausdruck der Meinungsbildung und Kundgabe sei“ und nicht ausschließlich als Schlafplatz für jene dienen wolle, die an sonstigen Veranstaltungen teilzunehmen wünschen. Für den Versammlungscharakter spräche, dass in der Anmeldung Bezug auf den G20-Gipfel genommen werde, die optische Präsenz des Ortes und seine Nähe zum Gipfel, dass eine Bühne für Kundgebungen sowie ein Zelt für Workshops vorgesehen seien und dass politische Transparente u.ä. gezeigt würden. Demgegenüber würde bestimmten Infrastrukturen des Camps (Schlafzelte, sanitäre Anlagen und Küchen), Sportveranstaltungen, bestimmten Workshopthemen sowie eingeschränkt den Konzerten keine funktionale oder symbolische Bedeutung für eine Versammlung zukommen. Auch der beschränkte Zugang zu den Veranstaltungen im Camp, der durch die Zelte selbst erschwert würde, widerspräche dem Gedanken einer politischen Versammlung: Öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel besäßen nämlich einen Adressaten, welcher an der Kundgebung selbst nicht teilnimmt, aber doch physisch-sinnlich die Möglichkeit besitzt, unmittelbar die kundgetane Meinung zu vernehmen. Die Gewichtung von als versammlungsimmanent eingestuften Elementen und solchen, denen diese Qualität abgehe, sollte den weiteren Verlauf der juristischen Auseinandersetzung maßgeblich bestimmen.
Im Ergebnis erklärte das VG, dass kein eindeutiger Schwerpunkt erkennbar sei. Allerdings seien die Zweifel über den Charakter des Camps zugunsten der Versammlungsfreiheit aufzulösen. Die Möglichkeit sich zu versammeln könne darüber hinaus auch nicht unter Verweis auf die Grünanlagenverordnung beschränkt werden, da es sich beim Stadtpark um eine öffentliche Fläche handle, auf welcher eine politische Auseinandersetzung möglich sein müsse. Auch müsse der gesamte „Vorgang des Sich-Versammelns“ unter den Schutz der Versammlungsfreiheit gestellt werden – Auf- und Abbau inklusive. Daher sei das Camp vorerst zu dulden, bis ein versammlungsrechtlicher Bescheid bekanntgegeben werde. Dabei wurden die Behörden angehalten, versammlungsfreundlich zu verfahren und Kooperationsgespräche mit den Veranstalter*innen zu führen. Das Gericht monierte bereits zu diesem Zeitpunkt, dass die Behörden ein solches Gesprächsangebot nicht unterbreitet hatten.
Innen und Außen von Protestcamps – oder: Sie betreten jetzt eine geschützte Grünanlage!
In den rechtlichen Auseinandersetzungen wird zwischen dem öffentlichkeitswirksamen Außen einer Versammlung und einem potentiell nicht zur Meinungsbildung oder -kundgabe dazugehörigen Innen unterschieden. In den Entscheidungen der Gerichte entspricht dies der Unterscheidung zwischen dem Protest als der grundrechtlich geschützten und öffentlich wahrnehmbaren Ausübung der Meinungsfreiheit in kollektiver Form einerseits und der dabei in Anspruch genommenen oder eingesetzten Infrastruktur andererseits. Während erstere versammlungsrechtlich relevant sei, gelte das nicht oder nicht zwingend für die Zweite. Wenn die Errichtung und Nutzung der Infrastruktur ohne direkten Bezug zur Meinungskundgabe aus der Sicht der Außen-Betrachter*innen überwiegt, dann, so die gängige Auffassung, handelt es sich nicht um eine privilegierte Versammlung, sondern um eine private (Über-)Inanspruchnahme öffentlicher Einrichtungen, die von vornherein der Erlaubnis bedarf. Letzterer muss dann nicht erst aufwändig verboten werden. Was unerwünscht ist, wird einfach nicht genehmigt. Im öffentlichen Recht der Bundesrepublik verkörpert die ,geschützte Grünanlage‘ somit ein Refugium des repressiven Hoheitsstaates: Hier steht grundsätzlich jede Aktivität, die über bloßes Betrachten hinausgeht und nicht in rechtlichen Vorschriften ausdrücklich gestattet wird, unter Erlaubnisvorbehalt. Lagern, Zelten, Baden und Lärm sind explizit verboten, ebenso frei laufende Hunde, Essensausgabe oder Fußballspielen.[4] Auch wenn es immer wieder vorkommt, dass auf solchen Grünflächen Feste, Konzerte und andere Events unter Auflagen genehmigt werden, die Große Festwiese im Stadtpark Hamburg solchen Zwecken sogar ausdrücklich gewidmet ist und seit 1953 schon mehrfach Veranstaltungen mit mehr als 100.000 Besucher*innen Platz geboten hat, darunter Kirchentage, Sportfeste und Konzerte, räumt das Recht den Behörden einen weitreichenden Steuerungs- und Ermessensspielraum ein, der nur durch hochrangige Grundrechte und das Gebot beschränkt ist, gleiche Sachverhalte gleich zu behandeln (Art. 3 Abs. 1 GG).
Für den behördlichen wie auch den gerichtlichen Umgang mit den Camp-Anmeldungen kam es also zunächst darauf an, welcher Rechtsrahmen hier anzuwenden ist. Das hing wiederum von der Frage ab, ob die Protestcamps unter dem privilegierten Grundrechtsschutz der Versammlungsfreiheit stehen oder lediglich Ausprägungen allgemeiner Handlungsfreiheit sind. Damit wird zugleich das Repertoire der bürokratischen Handlungsformen vorgegeben: Im ersten Fall müsste eine Verbotsverfügung erlassen und begründet werden, im zweiten Fall könnten sich die Behörden damit begnügen, die beantragte Erlaubnis zu versagen. Dabei unterliegt das Verbot einer Versammlung einem deutlich höheren Begründungsaufwand als die Versagung einer Ausnahmeerlaubnis für ein ohnehin präventiv verbotenes Unterfangen.
Das Grundgesetz schützt die Versammlungsfreiheit als „das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln“ (Art. 8 Abs. 1 GG). Es handelt sich dabei um ein Individualgrundrecht, das jedoch auf „die Möglichkeit der Kollektivwerdung“ ausgerichtet ist, „um in der manifesten Präsenz des Versammlungskörpers aufzugehen“ (Hartmann 2018: 200). Ausgehend vom grundlegenden Brokdorf-Beschluss von 1985, in dem der 1. Senat des BVerfG die Versammlungsfreiheit „nicht auf Veranstaltungen beschränkt [wissen wollte], auf denen argumentiert und gestritten wird, sondern […] vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen“ (BVerfGE 69, 315: 343) mit umfasst sah, gilt im Rahmen der inneren Versammlungsfreiheit das Selbstbestimmungsrecht der Veranstalter*innen, nicht nur über Ort, Zeit und Gegenstand ihres Protests frei zu entscheiden, sondern auch über die Protestformen und -mittel. Dabei gilt neben dem Friedlichkeitsgebot in Art. 8 Abs. 1 GG auch die neuere Auffassung des BVerfG, dass Versammlungen als Ausdruck „gemeinschaftlicher, auf Kommunikation angelegter Entfaltung“ auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet sein müssen (BVerfGE 104, 92: 104). Von diesem Diktum ist auch die verwaltungsgerichtliche Auseinandersetzung um die Inanspruchnahme von (ggf. privatem) Gelände für Versammlungen, deren Dauer, die eingesetzten Mittel sowie die ihr dienlichen Infrastruktureinrichtungen geprägt (vgl. Sachs 2018: 187). So wurde insbesondere die Errichtung von Zelten, Tischen, Sitz- und Kochgelegenheiten danach beurteilt, ob die jeweils in Rede stehenden Gegenstände und Hilfsmittel zur Verwirklichung des Versammlungszwecks funktional oder symbolisch für die kollektive Meinungskundgabe wesensnotwendig seien (vgl. BVerfGE 104, 92: 104; Beschluss vom 24.10.2001, 1 BvR 1190/90, 2173/93, 433/96, Rn. 54). Schutzwirkungen des Versammlungsgrundrechts werden weiterhin dort anerkannt, wo versammlungsveranlasste Verhaltensweisen darauf gerichtet sind, „die körperlich-emotionale Wahrnehmbarkeit“ (Hartmann 2018: 201) oder die „Teilnahme an der Versammlung“[5] sicherzustellen. Wo eine Abgrenzung schwierig erscheint, weil sowohl versammlungsbezogene Elemente vorliegen, also auch solche ohne Meinungsäußerungsbezug, oder es „mit einer zunehmenden zeitlichen oder örtlichen Verfestigung der Versammlung in verstärktem Maße zu Überschneidungen zwischen den Zwecken einer kollektiven Meinungskundgabe mit Formen einer individuellen Lebensgestaltung, also etwa dem ‚Wohnen im Zelt‘“ (VG Berlin, Beschluss vom 20.12.2013, 1 L 294.13, Rn. 21) kommt, ist nach der Rechtsprechung von BVerfG und BVerwG auf das Gesamtgepräge sogenannter „gemischter“ Versammlungen abzustellen.
Diese Zweiteilung von nach außen gerichteten versammlungsbezogenen Elementen und solchen ohne Meinungsäußerungsbezug ist jedoch problematisch, denn sie unterschlägt das Wechselspiel von Protestform und Protestwahrnehmung. Der symbolische Raum innerhalb eines solchen Ereignisses wird durch die spezifischen Praxen der je sich aufeinander beziehenden Protestierenden und die darin einbezogenen Materialien eröffnet. Dies bestimmt maßgeblich die Form des Protests und wie dieser von außen wahrgenommen wird (vgl. bspw. hinsichtlich der Nutzung von Medien bzw. sozialen Medien in Protestcamps McCurdy et al. 2016: 100 ff.). Doch auch alltägliche Praktiken können innerhalb eines bestimmten Rahmens einen symbolischen Raum eröffnen, in welchem sie einen genuin politischen Sinn erhalten. Nicht nur, aber besonders in Zeiten der Krise der sozialen Reproduktion kann die kollektive Übernahme von alltäglichen Reproduktionstätigkeiten (vgl. Bailey/McAtee 2003), vom Kochen bis zu emotionaler care-Arbeit, eine Form nicht nur politischer Organisation, sondern auch politischen Protests darstellen (Jeffries 2018: 581ff.).[6] Die Protestform Camp entsteht in Großbritannien, den USA und Westdeutschland in den frühen 1980ern im Kontext einer von feministischen Ideen inspirierten Politisierung ,privater‘ Reproduktionstätigkeiten (Feigenbaum et al. 2013). Die von den Gerichten geleistete rechtliche Konstruktion von Öffentlichkeit ist besonders der hybriden Form der Protestcamps nicht angemessen, in welchen ein Außen der Meinungskundgabe und ein Innen der Meinungsbildung folglich nicht eindeutig unterschieden werden können.
22. Juni, OVG: Ein Protestcamp ist (doch) keine Versammlung
Während die Hamburger Behörden gegen die versammlungsfreundliche Entscheidung des VG Beschwerde zum Oberverwaltungsgericht (OVG) einlegten, wandten sich die Veranstalter des Protestcamps wiederum an das VG, um mit einem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gegen die von der Versammlungsbehörde am 1. Juni erlassene Allgemeinverfügung vorzugehen, welche ihnen die Durchführung der Versammlung innerhalb der Transferzone untersagte, in der auch die Stadtparkwiese lag. Entgegen des Antrags der Behörden setzte das VG dieses Verfahren nicht bis zur Entscheidung des OVG aus, sondern stellte mit Beschluss vom 20. Juni die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Veranstalter gegen die Allgemeinverfügung wieder her. Damit wurde die Durchführung des Camps bis zu einer anders lautenden Entscheidung des OVG rechtlich erlaubt.
Der Rechtsansicht des VG folgte das OVG Hamburg in seiner Entscheidung vom 22. Juni nicht (4 Bs 125/17). Es blieb zwar der problematischen Trennung von Außen und Innen treu, der sich auch das VG verpflichtet sah, hatte letztlich aber keinen Zweifel daran, dass bei dem angemeldeten Protestcamp diejenigen Elemente überwiegen, die keinen inhaltlichen Bezug zur Meinungskundgabe hätten (insbesondere Schlafzelte, Sanitäranlagen und Küchen, aber auch Veranstaltungen ohne thematischen Bezug zum G20-Gipfel). Dabei müsse, wie das OVG argumentierte, jedes einzelne Objekt in die Gesamtbetrachtung, die aus „Sicht eines durchschnittlichen Betrachters“ zu erfolgen habe, einbezogen werden. Zelte seien lediglich dann Bestandteil einer Versammlung, wenn in ihnen eine thematische Verknüpfung zum demonstrativen Akt oder dieser selbst erfolgt bzw. das Zelt aus symbolischen Gründen hierfür benötigt wird, bspw. um „auf Umstände in Gemeinschaftsunterkünften“ von Asylsuchenden hinzuweisen – ihre bloße Präsenz alleine genüge nicht, um der Veranstaltung einen politischen Charakter zu verleihen.[7] Auch konnte sich das Gericht hinsichtlich der geplanten Barrios[8] nicht klar entscheiden, ob diese für die Meinungskundgabe nach außen Relevanz besäßen.
Das OVG argumentierte abschließend, dass die infrastrukturellen Kapazitäten gar nicht ausreichten, um die Meinungskundgabe innerhalb des Camps so zu gestalten, dass (zumindest der Möglichkeit nach) alle 10.000 Campbewohner*innen an ihnen teilnehmen könnten. Damit legte es allerdings einen weit höheren Maßstab an das Camp an, als dies etwa bei einer Demonstration entsprechender Größe der Fall wäre: Auch bei einer solchen ist es in den seltensten Fällen so, dass die Redebeiträge oder Durchsagen auf den Lautsprecherwägen oder Bühnen alle Teilnehmer*innen gleichzeitig erreichen.
Schlafzelte: Eine Form des Protest?
Auch der beispielhafte Verweis des OVG auf die Proteste Geflüchteter bedarf einer Korrektur: Schlafzelte sind aus Sicht eines unbeteiligten Dritten ein nicht weniger augenscheinliches Symbol des Protests gegen die Verhältnisse in den jeweiligen Unterkünften als es Informationszelte sein können. Deshalb campierten Geflüchtete im Sommer 2012 auf dem Münchner Rindermarkt, statt lediglich Informationsmaterial auszulegen.[9] Dies gilt umso mehr, als eine Masse von Zelten die öffentliche Repräsentation nicht nur von Einheit, sondern auch von Entschlossenheit bedeutet (vgl. Alimi 2012: 405): Während des Protestmarsches der Geflüchteten von Würzburg nach München, welcher der Besetzung des Rindermarkts vorausgegangen war, nächtigten die Protestierenden vielerorts aus pragmatischen Gründen in Kirchen oder bei Unterstützer*innen, die ihre Räume zur Verfügung stellten. Demgegenüber gab es in München die bewusste Entscheidung, auf einem öffentlichen Platz zu campieren: Es wurde gerade nicht in einer Kirche oder einem von Unterstützer*innen organisiertem Raum geschlafen, sondern unter widrigen Bedingungen auf einem öffentlichen Platz, um einen dauerhaften öffentlichen Protest sichtbar zu machen.
Das VG hat in einer späteren Entscheidung (75 G 8/17) Zelte, in denen lediglich übernachtet wird, mit der Begründung vom Geltungsbereich des Art. 8 ausgeschlossen, schlafend könne „man grundsätzlich keine Meinung kundtun“. Diese kategorische Trennung zwischen Innen und Außen des Protestcamps wurde nicht nur in den Protesten von Geflüchteten, sondern auch in den Protesten beim G20 in Hamburg konterkariert. Als Protest gegen die Campverbote wurde im Volkspark Altona am 4. Juli 2017 zu demonstrativen sleep-ins aufgerufen (vgl. 00013-INT: Z.330ff.). Diese hatten in der gegebenen Situation klar eine politische Dimension, da sie sich explizit gegen eine polizeiliche Maßnahme richteten. Hier wurde in der Tat schlafend eine Meinung kundgetan.
28. Juni, BVerfG: Im Zweifel ist versammlungsfreundlich zu verfahren
Die Veranstalter zogen schließlich vor das BVerfG, das am 28. Juni in wesentlichen Punkten zu ihren Gunsten entschied (1 BvR 1387/17): Das Camp solle von den Behörden und Gerichten vorläufig als Versammlung behandelt werden, denn andernfalls würde „das Versammlungsrecht des Antragstellers bei einem besonders herausragenden politischen Großereignis nachhaltig entwertet“, wenn sich im nachgelagerten Hauptsacheverfahren herausstellte, dass das Vorhaben doch unter dem Schutz von Art. 8 GG steht. Grundlage dieser immer noch im Eilrechtsschutzverfahren ergangenen Kammerentscheidung war eine summarische Folgenabwägung auf Grundlage des ursprünglichen Antragsbegehrens des Veranstalters. Dabei konnten die drei Richter in der Sache nur über solche Fragen befinden, die in der Rechtsprechung des BVerfG als entschieden gelten. Entsprechend hoben sie in der Begründung gleich eingangs hervor, dass die Frage, „in welchem Umfang und mit welchen Maßgaben der Schutzgehalt des Art. 8 Abs. 1 GG auch die Errichtung von Infrastruktureinrichtungen umfasst“, in der bisherigen Verfassungsrechtsprechung „weitgehend ungeklärt“ sei. Angesichts „neuer Formen und Qualität aktuellen politischen Protests“ stellten sich hierbei „weitreichende Folgefragen im Hinblick auf die Offenheit des Versammlungsgrundrechts für Fortschreibungen“, insbesondere aber auch für deren Einschränkbarkeit. Da der Kammer eine vorwegnehmende Entscheidung über diese Fragen verwehrt war, entstand für die Folgenabwägung eine ‚Alles oder Nichts‘-Situation. Dies auch deswegen, weil die Hamburger Behörden vor dem BVerfG keinen Zweifel daran ließen, dass sie einer Sondernutzung öffentlicher Parkflächen für Protestcamps ohne Versammlungscharakter erst recht nicht zustimmen würden. Ohne sich hierzu im Einzelnen zu verhalten, legte auch das BVerfG die übliche, nicht zuletzt von ihm selbst begründete Trennung zwischen solchen kommunikativen „Anliegen und Aktivitäten“, die „auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet sind“ und das Camp „mit einem übergreifenden Protestanliegen anlässlich des G20-Gipfels verbinden“, und anderen „Programmpunkten“ zugrunde, die „für sich gesehen ersichtlich nicht unter die Versammlungsfreiheit“ fielen. Damit schrieb es zugleich die Differenzierung zwischen dem Innen und Außen des Camps sowie die Charakterisierung von einigen Zelten als reine ,Schlafzelte‘ fort. Auch deswegen wollte die Kammer dem Antrag der Veranstalter nicht in Gänze entsprechen. Statt dessen sei im Rahmen des Eilrechtsschutzes ein Ausgleich geboten, der eine „möglichst weitgehend[e]“ Durchführung des Protestcamps ermöglicht und zugleich das Interesse der Öffentlichkeit an der Nutzung und Erhaltung der Parkanlagen als Erholungsgebiet berücksichtigt. Ausdrücklich erlaubte der Beschluss den Behörden, Auflagen bezüglich der Infrastruktur des Camps zu machen, um mögliche Schäden am Stadtpark zu verhindern bzw. gering zu halten. So seien die Behörden berechtigt, „die Errichtung von solchen Zelten und Einrichtungen zu untersagen, die ohne Bezug auf Akte der Meinungskundgabe allein der Beherbergung von Personen dienen sollen, welche anderweitig an Versammlungen teilnehmen wollen“. Das BVerfG ließ damit die Möglichkeit offen, dass die Schlafzelte derer, die nicht an Veranstaltungen im Camp teilnehmen wollten, von den Behörden verboten bzw. entfernt werden könnten – und eröffnete damit einen Ermessensspielraum, der von der Polizei im weiteren Verlauf repressiv genutzt wurde.
29. Juni f.: Das Scheitern der Kooperation
Auch nach der Entscheidung des BVerfG änderte die Stadt ihre grundsätzliche Haltung zu dem Camp nicht. Die Prämisse, dass es nunmehr nach Versammlungsrecht behandelt werden müsse, führte nur dazu, dass die behördliche Zuständigkeit vom Grünflächenamt der Bezirks an die Versammlungsbehörde abgegeben wurde. Diese versuchte von Anfang an, den ihr im Beschluss eingeräumten Spielraum zu nutzen, das Camp mit all seinen Bestandteilen als einen Raum alternativer Protestkultur auf Zeit zu verhindern. Das Kooperationsgespräch am 29. Juni dauerte nur fünf Minuten, in denen die Behörde deutlich machte, dass sie weite Teile der Infrastruktur (Küchen, Duschen) sowie Schlafzelte weiterhin untersagen würde. Aus diesem Grund stellte der Anmelder des antikapitalistischen Protestcamps am 30. Juni erneut einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beim BVerfG, mit dem Ziel, eine Ergänzung des Beschlusses vom 28. Juni dahingehend zu erreichen, dass das Übernachten von Teilnehmer*innen und zu diesem Zweck die Errichtung von Zelten und Toiletten sowie die Versorgung mit Essen und Trinken auf dem Gelände des Stadtparks zu gestatten sei. Den Antrag lehnte das BVerfG am 30. Juni (1 BvR 1387/17) aus prozessualen Gründen ab.
In Erwartung eines ablehnenden Bescheids seitens der Versammlungsbehörde entschieden die Veranstalter*innen am 30. Juni, das Camp „hilfsweise“ (vgl. VG Hamburg, 75 G 3/17: 6) im Elbpark Entenwerder neu anzumelden. Der Elbpark liegt weit von den Transferkorridoren entfernt und außerhalb der in der Allgemeinverfügung beschriebenen Sicherheitszone, innerhalb der Versammlungen während des G20-Gipfels generell untersagt waren. Nachdem bei einem weiteren telefonischen Kooperationsversuch eine positive Bescheidung seitens der Versammlungsbehörde nicht in Aussicht gestellt wurde, ersuchte der Anmelder am Vormittag des 1. Juli beim VG Hamburg um Eilrechtsschutz. Er ging davon aus, dass die Versammlungsbehörde mit Hilfe polizeilicher Gewalt den für den Folgetag geplanten Aufbau des Camps verzögern oder unterbinden werde. Auf Nachfrage des VG erließ die Behörde gegen 16 Uhr einen für sofort vollziehbar erklärten Bescheid, welcher die Durchführung des Camps sowohl im Stadtpark als auch im Elbpark Entenwerder untersagte, ebenso die Aufstellung von Schlafzelten, Duschen und Küchen, sowie ein Ausweichen auf den gut 18 km entfernt gelegenen Frascatiplatz vorschrieb. Hierbei handelte es sich um die erste schriftliche Verfügung der Versammlungsbehörde in Bezug auf das Camp. Der Anmelder erhob hiergegen Widerspruch und beantragte beim VG, dessen aufschiebende Wirkung in Bezug auf den Elbpark Entenwerder wiederherzustellen, um bis zu einer abschließenden gerichtlichen Klärung mit dem Aufbau des Camps beginnen zu können. In der Begründung des Antrags führten die Organisator*innen aus, dass der Frascatiplatz aufgrund seiner Lage für ihren Protest ungeeignet sei, während im Elbpark Entenwerder bisweilen ohnehin größere Veranstaltungen stattfinden und die Zahl der prospektiven Campbewohner*innen, entgegen anders lautender Einwände der Versammlungsbehörde, von 10.000 auf 5.000 reduziert worden sei.
1. Juli: Die Teillegalisierung des Camps
Mit Beschluss vom 1. Juli setzte das VG Hamburg die Vollziehbarkeit der Untersagungsverfügung für Entenwerder weitgehend außer Kraft (75 G 3/17). Da ein solcher Vollzug die endgültige Verhinderung des Camps bedeutet hätte, sei das Gericht in der Abwägung zu diesem Schluss gekommen, dass ein Verbot der Durchführung des Camps im Elbpark Entenwerder sowie von (Übernachtungs-)Zelten und Infrastruktur nicht rechtens sei. Das Gericht griff die Abwägung des BVerfG auf und entschied den räumlichen Nutzungskonflikt dahingehend, dass die Versammlungsfreiheit im Zweifel schwerer wiege als die Interessen Dritter am ungetrübten Genuss der Grünanlage. Vor allem aber habe die Versammlungsbehörde beim Erlass eines Versammlungsverbots für Entenwerder ihr Ermessen fehlerhaft bzw. gar nicht ausgeübt. So habe sie nur in Bezug auf den Stadtpark dargelegt, inwiefern durch das Camp der Versammlungsfreiheit mindestens gleichwertige Rechtsgüter beeinträchtigt oder gefährdet würden. Der Elbpark Entenwerder liege jedoch weder in der durch die Allgemeinverfügung vom 1. Juni 2017 eingerichteten Demonstrationsverbotszone noch läge er in der Nähe der Transferkorridore oder Routen der Gipfelteilnehmer*innen: Blockaden durch die Campteilnehmer*innen seien hier nicht zu erwarten.
Den weitergehenden Antrag des Anmelders, die Stadt zur Duldung von Camp-Aufbau und -Durchführung vorläufig zu verpflichten, weil zu erwarten sei, dass dieses Vorhaben von der Versammlungsbehörde mit polizeilichem Zwang vereitelt würde, lehnte das VG hingegen als unzulässig ab. Zum einen sei dieses Rechtsschutzziel bereits durch die vorläufige Aussetzung der Vollziehbarkeit der Verbotsverfügung erreicht, die es dem Antragsteller vorläufig erlaube, „das Protestcamp nach Maßgabe der Anmeldung vom 30. Juni 2017 einzurichten“. Zum anderen sei nach dieser Beschlusslage ein Ergreifen behördlicher Verhinderungsmaßnahmen nicht erwartbar, solange die Entscheidung nicht im Beschwerdeverfahren durch das OVG aufgehoben werde.
In der Annahme, dass die Behörden trotz fehlender Zusicherungen und entgegen ihres Vorverhaltens die richterliche Entscheidung des Verwaltungsgerichts respektieren würden, kommt eine justizielle Haltung zur Wirksamkeit der eigenen Regelungsmacht zum Ausdruck, die der Rechtsstaats nicht voraussetzt (auch gegen Behörden kann mit Zwangsmitteln vollstreckt werden), nach unserer Beobachtung für das Rechtsstaatsverständnis der Bundesrepublik jedoch charakteristisch ist. Wie sich indes am Folgetag zeigen sollte, waren die Befürchtungen der Veranstalter*innen alles andere als unberechtigt.
2. Juli I: Mündliche Zwischenverfügung und polizeiliche Endgültigkeit
Am Sonntag, dem 2. Juli, etwa zwischen 11:30 Uhr und 11:50 Uhr, sperrte die Polizei trotz der Entscheidung des VG Hamburg den Zugang zum Elbpark Entenwerder. Der Einsatzleiter sprach vor Ort eine bereits in der Nacht von Polizeiführer Hartmut Dudde getroffene mündliche Verfügung aus, welche den Aufbau des Camps untersagte. Zur Begründung hieß es, die Entscheidung des VG hätte eine Zwischenverfügung erforderlich gemacht bis die Versammlungsbehörde neue, spezifisch auf den Elbpark zugeschnittene Regelungen treffen würde.[10] Auch fehlten Rettungs- und Sicherheitskonzepte für den neuen Standort. Es bestehen jedoch erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der mündlichen Verfügung, die derzeit auch Gegenstand einer Klage der Veranstalter*innen des Camps sind (VG 21 K 264/18). Diese beziehen sich sowohl auf die Frage, ob überhaupt eine Zwischenverfügung erlassen werden durfte, welche die Wirkung der gerichtlichen Entscheidung im Ergebnis unterlief, und wenn ja, mit welchem Inhalt. Wie auch immer die grundsätzliche Möglichkeit beurteilt werden mag, durch den Erlass einer neuen Verfügung die Wirkung der Rechtskraft der richterlichen Entscheidung über die alte Verfügung zu umgehen,[11] sowie die Frage, ob diese Befugnis nur der ursprünglich zuständigen Versammlungsbehörde oder im Vorgriff auf diese auch der Polizei zustand,[12] in jedem Fall dürfte nach den verfassungs- und verwaltungsgerichtlichen Vorentscheidungen eine generelle Untersagung des Camps unverhältnismäßig und daher rechtswidrig gewesen sein. Zudem erzeugte die Polizeiführung mit dieser versammlungsfeindlichen Haltung nicht von ungefähr den Eindruck, die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung nur bedingt zu respektieren. Damit wusste sie ein zwar nicht unbedingt juristisches, aber doch politisches Machtvakuum dezisionistisch und handfest zu füllen, was Seitens der Veranstalter*innen als „Putsch der Polizei gegen die Justiz“ interpretiert wurde (Koester 2017).
Um ca. 12:30 Uhr wurde eine Polizeikette am Entenwerder Stieg sowie den naheliegenden Deichen gebildet. Zeitgleich meldeten die Veranstalter vor Ort eine stationäre Versammlung im Einmündungsbereich „Ausschläger Elbdeich/Entenwerder Stieg“ in der Zeit „von sofort bis zum 10. Juli“ unter dem Titel „Gegen das Campverbot und Repression durch die Polizei“ (42013-DOK: 13) an, die eine halbe Stunde später von der Versammlungsbehörde und dem Polizeiführer bestätigt wurde. Darüber hinaus regte sich in dem im Aufbau befindlichen Camp erster Widerstand: So wurden Transparente angefertigt, welche den Einsatzleiter Hartmut Dudde namentlich adressierten. Dies wiederholte sich gut eine Stunde später, als Campierende ein Transparent anfertigten, welches den Schriftzug „DUDDE DU KLOBÜRSTE“ trug.[13] Etwa um 14:10 Uhr entfernten und sicherten Polizeibeamte das erste, ca. 15:00 Uhr das zweite Transparent.
Gegen 14:30 Uhr traf dann, „ganz entgegen unserer sonstigen Usance, bitte schön“ (Bernd Krösser, Staatsrat in der Innensenatsverwaltung; 12011-DOK: 73), ein Mitarbeiter der Versammlungsbehörde ein. Verbindliche Vereinbarungen über Fluchtwege und andere versammlungsrechtliche Regelungen wurden zu diesem Zeitpunkt aber, so Innensenator Andy Grote, deshalb nicht getroffen, weil weiterhin Sicherheitsbedenken seitens der Behörde im Raum standen.[14] Von verschiedenen Seiten wurde dieses Vorgehen als „Verzögerungstaktik“ bezeichnet. Gegen 14:45 Uhr widersprach der Anmelder des Camps der mündlichen Verfügung schriftlich und stellte gegen 16:00 Uhr einen weiteren Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beim VG.
Gegen 16:30 Uhr erreichte ein erster LKW, der Infrastruktur geladen hatte, das Camp. Lediglich das Essen durfte jedoch entladen werden. Ein weiteres Kooperationsgespräch gegen 17:15 Uhr scheiterte ebenfalls. Kurz darauf setzte sich der Leiter der Bereitschaftspolizei mit der Versammlungsleitung in Verbindung: In diesem Gespräch wurde mitgeteilt, dass bereits aufgebaute Zelte auf dem unbefestigten Teil der Deichkrone entfernt werden müssten – woraufhin diese von Teilnehmenden des Camps abgebaut wurden. Um 18:30 Uhr traf eine neue schriftliche Verfügung der Versammlungsbehörde ein. In dieser wurde die Durchführung des Camps in Gestalt seiner ursprünglichen Anmeldung zwar untersagt, auf einem Teilabschnitt des Elbparks jedoch zugelassen. Ausdrücklich bestätigt wurde dabei der Aufbau des Zirkuszeltes, der Bühne, von Sanitäranlagen und zehn Workshop-Zelten, nicht jedoch das Aufstellen von Schlafzelten, das Errichten von Duschen sowie der Aufbau von Küchen, die weiterhin verboten blieben. Notfalls sollten die Workshop-Zelte „als Ruherückzugszone genutzt werden“ dürfen, die jedoch „geöffnet zu halten und für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen“ (42013-DOK: 22) seien.
In der Folge wurde die Polizeikette am Entenwerder Stieg gegen 20:30 Uhr aufgehoben, doch waren bis zu diesem Zeitpunkt bereits erste Schlafzelte aufgebaut worden. Gut eine dreiviertel Stunde später gaben die Anmelder des Camps bekannt, dass sie sich nicht an die schriftliche Verfügung halten würden, da für sie die Rechtsprechung des VG vom 1. Juli weiterhin verbindlich sei. Daraufhin entfernte die Polizei in den frühen Nachtstunden, etwa zwischen 22:30 Uhr und 22:45 Uhr,[15] unter Einsatz von Pfefferspray zwölf Schlafzelte und stellte von sieben Teilnehmenden des Camps die Identitäten fest.
2. Juli II: Aufgeschoben ist aufgehoben – Legalisierung von Maßnahmen ex post
Dem Widerspruch des Veranstalters gegen die schriftliche Verfügung vom 2. Juli folgte ein Antrag auf Wiederherstellung von dessen aufschiebender Wirkung an das VG. Sowohl über diesen als auch über einen weiteren Eilrechtsschutzantrag auf Duldung des Camps entschied das VG in wohl neuer Besetzung[16] noch in der gleichen Nacht – diesmal ablehnend (VG 75 G 8/17): Mit dem zweiten schriftlichen Bescheid habe die Versammlungsbehörde ihre Verfügung formell hinreichend begründet – ein Ermessensausfall liege nun nicht mehr vor. Dies gelte unabhängig davon, ob die Gründe der Versammlungsbehörde realiter zuträfen oder nicht. Durch Erlass der zweiten schriftlichen Verfügung bestünde kein Rechtsschutzbedürfnis mehr. Auch hätte die Versammlungsbehörde mitgeteilt, dass der Aufbau der nun vom VG erlaubten Zelte nicht weiter behindert werde.
Das VG orientierte sich in seinem Beschluss wie bereits zuvor sowohl an der Brokdorf-Entscheidung des BVerfG, welche für eine Beschränkung der Versammlungsfreiheit nach § 15 Abs. 1 VersG eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit in Bezug auf hochrangige Verfassungsgüter voraussetzt, sowie an einem Urteil des OVG Lüneburg[17], welches die Anforderungen an eine diesbezügliche Gefahrenprognose umso höher ansetzt, je länger der demonstrationsfreie Zeitraum sei. Es befand, dass eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit hinsichtlich der zu erwartenden Schäden für die Grünanlagen vorliege, da diese erstens durch das Campieren selbst in Mitleidenschaft gezogen würden sowie zweitens die Öffentlichkeit über den Zeitraum des Protests von der Nutzung derselben ausgeschlossen sei. Schlafzelte fielen darüber hinaus nur dann unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG, sofern sie „einen erkennbaren inhaltlichen Bezug zur kollektiven Meinungskundgabe“ aufweisen: „Das Übernachten in einem Zelt ist an sich neutral und nicht Ausdruck einer Meinungskundgabe, denn schlafend kann man grundsätzlich keine Meinung kundtun“. Die Entscheidung wich damit nicht nur vom Beschluss des VG am 1. Juli ab, sie blieb auch hinter jenem des BVerfG vom 28. Juni zurück, da es erneut maßgebliche Teile des Camps, insbesondere Schlafzelte, zur Disposition stellte bzw. für die Meinungsbildung und -kundgabe als irrelevant erachtete.
5. Juli: Die Genehmigung eines abgebrochenen Camps
Gegen diese Entscheidung legte diesmal der Veranstalter Beschwerde zum OVG ein. Während Polizeipressesprecher Timo Zill davon sprach, dass die polizeiliche Protestdiagnose vom VG und BVerfG bestätigt worden sei[18], entschied das OVG am 5. Juli nachgerade gegenteilig (OVG 4 Bs 148/17). Während zwar eine Beschränkung der Fläche, wie vom VG am 2. Juli entschieden, rechtmäßig sei, gelte dies nur teilweise für die Auflagen zur Beschränkung von Schlafzelten und Teilen der Infrastruktur: Die Zahl an Schlafzelten könne auf bis zu 300 (für je 2 bis 3 Personen) begrenzt werden, ein grundsätzliches Verbot sei jedoch aufgrund der Entscheidung des BVerfG nicht zulässig. Von dieser ausgehend konzedierte das OVG, dass Infrastruktureinrichtungen nicht allein deshalb untersagt werden könnten, weil ihnen keine funktionale oder symbolische Bedeutung für das Versammlungsthema zukomme. Eine Untersagung müsse, wenn sie nicht auf Sicherheitsbelangen beruhe, daher „einen Bezug zum Umfang des Camps im Sinne der Flächeninanspruchnahme haben“. In diesem Sinne könne der Aufbau von Hilfsmitteln und Infrastruktureinrichtungen untersagt werden, denen jeglicher Bezug zur Meinungskundgabe fehle; in Bezug auf Zelte etwa für Menschen, die am Besuch der Camp-Veranstaltungen gar nicht interessiert sind. Daraus zog das OVG den Schluss, dass Zelte jedenfalls nicht deshalb verboten werden dürften, weil sie an sich kundgebungsneutral seien. Insbesondere komme eine gänzliche Untersagung zum Schutz öffentlicher Grünflächen und der dort vorhandenen Tiere und Pflanzen nicht in Frage. Jeder widmungsgemäßen Nutzung der Rasenfläche sei zwangsläufig eine gewisse Beeinträchtigung immanent, insofern ergäben sich für die Nutzung durch das Protestcamp keine darüber hinausgehenden Besonderheiten. Die Beschränkung der Zeltmenge rechtfertigte das OVG daher auf der Grundlage einer Abwägung zwischen den Anforderungen der Versammlung und dem Interesse an einer möglichst schonenden Behandlung der Grünfläche sowie deren sonstiger Nutzbarkeit durch Dritte. Danach sei dem Camp eben so viel Platz einzuräumen, wie es für die Durchführung seiner (Dauer-)Veranstaltungen benötige. Den danach maximal zuzulassenden Bedarf von 300 Zelten für je 2 bis 3 Personen orientierte es an dem von den Organisator*innen selbst vorgetragenen Nutzungs- und Flächenbedarf: Aufgrund der prognostizierten Teilnehmer*innenzahlen und der sonstigen Schlafgelegenheiten errechnete es einen abzudeckenden Schlafplatzbedarf in Höhe der Hälfte der aufgrund der mitgeteilten Programmdichte und Raumgröße ermittelten Teilnahmekapazität von 1.700 Personen. Zu ihrer Versorgung sei auch das Errichten von Waschgelegenheiten und der Aufbau einer Küche zur Selbstversorgung zuzulassen.
Damit setzte es die Vorgaben des BVerfG, bei grundsätzlicher Aufrechterhaltung der Differenzierung zwischen Innen und Außen, zwar pragmatisch, aber versammlungsorientiert um. Die Potentialität der Camps und seine auf Evolution auch der inhaltlichen Programmgestaltung hin angelegte Entwicklungsfähigkeit dürfte jedoch nur unzureichend beachtet worden sein: Ein Camp ist kein Festival, seine Inhalte sind nicht vorgegeben und statisch, ein Programm wird nicht abgespult, sondern inszeniert, gelebt und gemeinsam entwickelt (vgl. Fußn. 9). Wieviel Programm tatsächlich entsteht und welcher Bedarf daraus erwächst, lässt sich nur bedingt voraussagen, unterliegt dynamischer Anpassung und bedarf daher eines rechtlich abgesicherten Steuerungsmechanismus, der über das Kooperationsgebot hinausgeht (z.B. § 80 Abs. 7 VwGO).
Entscheidungserheblich war des Weiteren, dass das OVG hier nun explizit der polizeilichen Gefahrenprognose im Hinblick auf das Camp widersprach. Eine unmittelbare Kausalität zwischen der Genehmigung eines Camps und etwaigen Straftaten vermochte es nicht zu erkennen:
„Auch wenn damit zu rechnen ist, dass diejenigen Personen, die die Veranstaltung im Stadtpark besucht hätten, nun auch die Veranstaltung im Elbpark Entenwerder besuchen werden, lässt dies nicht den Schluss zu, dass allein deshalb trotz der Entfernung zu den neuralgischen Punkten von einem großen Anteil gewaltbereiter unfriedlicher Teilnehmer an der Veranstaltung und damit von einem so hohen Gefahrenpotenzial bezogen auf das Camp auszugehen ist, dass dies das Verbot des Übernachtens rechtfertigt“.
Auch stünden der Behörde respektive der Polizei in einem solchen Fall weiterhin die nach dem VersG und dem HamSOG eröffneten Möglichkeiten zur Ergreifung gefahrenabwehrender Maßnahmen zur Verfügung.
Für das Antikapitalistische Camp in Entenwerder kam diese positive Entscheidung zu spät. Frustriert durch die polizeilichen Behinderungen hatten die Veranstalter*innen das Camp am 4. Juli aufgelöst.
Fazit: Die Herausforderung rechtlicher Konturierung hybriden Protests
Die Hamburger Verwaltungsgerichtsbarkeit und das BVerfG taten sich mit einer eindeutigen rechtlichen Konturierung kurrenter hybrider Protestformen, in denen das Private und das Öffentliche nicht klar voneinander geschieden werden konnten, schwer. Doch die Unentschlossenheit der Gerichte eröffnete der Polizei einen exekutiven Handlungsspielraum zur Verhinderung der Camps durch repressive Maßnahmen gegen die Camp-Teilnehmer*innen. Öffentlich legitimiert wurde dies in Bezug auf die Camps durch die Präsentation der polizeilichen Gefahrenprognose als maßgeblicher Protestdiagnose: Sie seien Orte von denen Gewalt ausginge und in denen sie geplant werde.[19] Im juristischen Prozess spielte diese Interpretation allenfalls eine untergeordnete Rolle. Die Gerichte sind im Laufe der juristischen Auseinandersetzung um die Camps in Hamburg nur eingeschränkt auf die Sicherheitsbedenken der Versammlungsbehörde respektive der Polizei eingegangen.[20] Im Vordergrund standen die Klärung der rechtlichen Einstufung der Camps als Versammlung und der Schutz von Grünanlagen. Dabei wurden seitens der Polizei Sicherheitsbedenken und die zu ihrer Begründung in den Raum gestellten Gewaltszenarien nicht nur im unmittelbaren Nachgang der Ereignisse öffentlich kommuniziert und als Hauptgrund für eine Verhinderung des Camps vorgebracht. Die mediale Strategie der Legitimation folgte einer anderen Argumentationslogik als die vor den Gerichten. Während sich die juristische Debatte um etwaige Beeinträchtigungen der Allgemeinheit durch Schlafzelte und bestimmte Infrastrukturen des Camps drehte, waren für die Polizei und die Versammlungsbehörde eine negative Gefahrenprognose und Erfahrungen mit vergangenen Camps handlungsleitend: Protestcamps sollten nicht stattfinden dürfen, da sie Blockaden und gewalttätigen Protest ermöglichen würden (vgl. die Allgemeinverfügung vom 01.06.2017: 13 ff.). Mithilfe dieser Lagebeurteilung legitimierte die Polizei ihr Handeln auch in der Öffentlichkeit, während sie in den Prozessen nicht entscheidend war.
Auffällig ist dabei, dass die Behörden den kreativen, kommunikativen und alternativen Eigenwert sowie den Mehrwert der Protestcamps für die demokratische (Streit-)Kultur nicht nur nicht zu sehen vermochten, sondern als vordergründige Augenwischerei für die durch diese ermöglichten Gewalthandlungen markierten. Diese versammlungsfeindliche Haltung rechnet auch das prognostizierte Gewaltverhalten einiger den sonstigen Teilnehmer*innen des Camps zu, selbst wenn die Gewalt, auch nach den polizeilichen Prognosen, nicht im oder vom Camp ausgehen, sondern sich andernorts verwirklichen würde. Auch darin blieb die Polizei hinter den Anforderungen des Brokdorf-Entscheidung zurück.[21]
In der weiteren juristischen Klärung der vom BVerfG offen gelassenen Frage nach der Fortschreibung der Versammlungsfreiheit für neue Formen des Protests wird zu berücksichtigen sein, dass seit Brokdorf alle großen versammlungsrechtlichen Entscheidungen des BVerfG von einem kontinuierlichen Wandel der Protestformen veranlasst wurden. Wenn dabei neben dem Diktum des Meinungsbezuges noch ein weiteres Kriterium entscheidungsprägend war, dann das der kollektiven körperlichen Präsenz. Immer wieder betonte das Gericht, dass es darum ginge, Überzeugungen als gemeinsame körperliche Sichtbarmachung „durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und des Umganges miteinander oder die Wahl des Ortes“ (BVerfGE 69, 315: 345) zu repräsentieren. Diesem Anspruch wollte das Protestcamp seiner Anmeldung zufolge entsprechen. Infrastruktureinrichtungen wie Zelte, Bühnen, Wasch- und Kochgelegenheiten vermögen diese anliegenbezogene Präsenz im öffentlichen Raum bei auf längere Dauer angelegten Massenveranstaltungen mit entsprechender Rahmung durch Transparente, Veranstaltungen und Verlautbarungen nicht nur erst (individuell) zu ermöglichen, sondern in der öffentlichen Wahrnehmung sogar noch zu vertiefen. Es ist damit im Sinne eines liberalen Verständnisses demokratischer Streitkultur, wenn dieses soziale Faktum auch gerichtlich als solches anerkannt würde.
Literatur:
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Rusteberg, Benjamin (2017): Schrödingers Camp oder die Versammlungsfreiheit vor dem Gesetz. Online unter: https://verfassungsblog.de/schroedingers-camp-oder-die-versammlungsfreiheit-vor-dem-gesetz/, zuletzt aufgerufen am 27.08.2018.
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Süddeutsche Zeitung (2012): Soziale Unruhen in Israel. 85 Festnahmen bei Protesten in Tel Aviv. Veröffentlicht am 24.06.2012. Online unter: https://www.sueddeutsche.de/politik/soziale-unruhen-in-israel-festnahmen-bei-protesten-in-tel-aviv-1.1391710, zuletzt aufgerufen am 28.08.2018.
Vorbereitungsgruppe Antikapitalistisches Camp (2017): Camp. Online unter: https://g20camp.noblogs.org/camp/, zuletzt aufgerufen am 29.08.2018.
Endnoten
* Die Autoren danken Jacob Panzner für die kritische Durchsicht und seine wertvollen Hinweise.
[1] Beschluss vom 14.05.1985, Az. 1 BvR 233, 341/81, BVerfGE 69, 315 (4. Leitsatz).
[2] Im Folgenden wird immer dann von „Anmelder“ oder „Veranstalter“ gesprochen, wenn in formalisierten Verfahren nur eine Person in dieser Funktion aufgetreten ist. Dahinter dürften gleichwohl stets komplexe Abstimmungs- und Entscheidungsprozesse unter den Organisator*innen und anderen beteiligten Organisationen gestanden haben.
[3] Nachfolgende Zitate ohne gesonderte Quellenangabe beziehen sich auf die jeweils letztgenannte gerichtliche Entscheidung in Angelegenheiten des Antikapitalistischen Camps.
[4] Vgl. § 1 Abs. 2 und 3 Verordnung zum Schutz der öffentlichen Grün- und Erholungsanlagen, HmbGVBl. S. 319, 327.
[5] Vgl. Dreier/Schulze-Fielitz, Grundgesetz-Kommentar, Art. 8 Rn. 36; in diese Richtung argumentieren auch Engelmann und Pichl (2017), die auf die Unmöglichkeit hinweisen, in Hamburg (bezahlbare) Unterkünfte für Protestteilnehmer*innen zu finden, während die Unterbringung der Gipfelgäste vom Bund bezahlt werde, und sich für ein „infrastrukturelles Supplement“ aussprechen, weil sonst die Teilnahme an jeglicher Protestform auf rein faktischer Ebene verunmöglicht werde.
[6] Bailey und McAtee stellen dies für die Pflege eines Gartens im Rahmen einer gewerkschaftlichen Kampagne heraus, die nicht nur inkludierend wirkte, sondern das othering, d.h. die Diffamierung des gewerkschaftlichen Protests durch konservative Medien unterbrach (Bailey/McAtee 2003: 34ff.). Die Teilnahme am täglichen Leben, die Konstruktion eines ‚normalen‘ Alltags, war insbesondere im Rahmen der Geflüchtetenproteste und der in diesem Kontext entstandenen Protestcamps nicht nur für die je Betroffenen, sondern auch für die (un)beteiligten Dritten ein politisches Moment (Landry 2015: 404).
[7] Würde dieser Argumentation konsequent gefolgt, könnten damit (Teile von) Demonstrationen, die keine Transparente, Fahnen o.ä. mitführen und wo keine Sprechchöre ertönen, als nicht unter das Versammlungsrecht fallend betrachtet werden.
[8] Bei den Barrios handelte es sich um kleinere, von verschiedenen Gruppen selbstständig organisierte Abschnitte des Camps mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten: „Das Camp soll aus vielen dieser kleinen selbstorganisierten Barrios bestehen, die von den Menschen, Gruppen und Strukturen künstlerisch und inhaltlich gestaltet werden“ (Vorbereitungsgruppe Antikapitalistisches Camp 2017).
[9] Über die Protestcamps und die Zelte in Israel im Jahr 2012, welche beinahe zeitgleich zu den Protesten am Münchener Rindermarkt stattfanden und sich gegen hohe Lebenshaltungskosten und Wohnungsnot richteten, schrieb die Süddeutsche Zeitung daher: „Die temporären, rustikalen Behausungen sind zu einem Symbol geworden für den Protest gegen die soziale Ungerechtigkeit“ (Süddeutsche Zeitung 2012; Hervorh. die Autoren).
[10] Dabei war bspw. der Hochwasser- und Deichschutz relevant, wie etwa die Geltung der Hochwasserschutzverordnung und das in § 63b Abs. 1 Hamburger WasserG geregelte Übernachtungsverbot in Außendeichgebieten während der Zeit vom 1. Oktober bis zum 15. April (sic!).
[11] Wie abschließende Urteile binden auch gerichtliche Beschlüsse über die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsmittels die Beteiligten (§§ 80 Abs. 5, 121 VwGO analog) und hindern die Verwaltung daran, eine davon abweichende Entscheidung zum Nachteil der Betroffenen zu treffen. Bis zur Aufhebung des Beschlusses im weiteren Instanzenzug ist die Behörde deswegen auf das Abänderungsverfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO verwiesen, will sie wegen veränderter Umstände von der vorinstanzlichen Beschlusslage abweichen, was wiederum eine Entscheidung des VG notwendig gemacht hätte (vgl. OVG Hamburg, DÖV 1965, S. 824 f.). Christian Ernst von der Bucerius Law School sprach im Sonderausschuss in diesem Sinne von einem „Abweichungsverbot“, weswegen er die Rechtmäßigkeit der mündlichen Zwischenverfügung bezweifelte (12011-DOK: 81). Dem hielt der Justiziar des Polizeipräsidenten, Regierungsdirektor Jens Stammer, sinngemäß entgegen (12011-DOK: 84), dass es bei belastenden Verwaltungsakten (wie etwa beschränkenden versammlungsrechtlichen Verfügungen), die vom Gericht allein wegen Form- oder Fehlern bei der Ermessensausübung beanstandet wurden, den zuständigen Behörden ohne Missachtung der Rechtskraft freistehe, einen neuen Verwaltungsakt unter Beachtung der gerichtlichen Auffassung zum Ermessen zu erlassen und damit den fehlerhaften Verwaltungsakt zu ersetzen (vgl. Maetzel 1974: 336; Franke/Schröter 2017). Dieser kann sogar inhaltsgleich lauten, wenn damit der Form- bzw. Begründungsfehler bei der Ermessensausübung geheilt wird. Vorliegend ging das VG allerdings nicht nur von einem formalen Fehler, sondern von einem Ermessensausfall aus. Daher war eine komplett neue Ermessensausübung geboten. Wir bezweifeln, dass der Zwischenverfügung des Polizeiführers eine nachgeholte Ermessenserwägung zu Grunde lag (Entscheidungszeitpunkt: 2.7.2017, 2:39 Uhr). Der hierfür erforderliche Informationsaustausch zwischen den Polizei-, Versammlungs- und Bezirksbehörden sowie dem Deutschen Hydrographischen Institut zur erwarteten Wetterlage im Hinblick auf eine mögliche Hochwassergefahr für die Elbinsel fand jedenfalls erst am Vormittag statt. Auch dürfte eine mündliche Verfügung ohne inhaltliche Begründung den vom VG gestellten Anforderungen an eine nachgeholte sorgfältige Ermessensausübung schon formal nicht genügen. Darüber hinaus geht aus den Aussagen der Beteiligten nicht hervor, dass bereits die gegen 12:20 Uhr mitgeteilte Zwischenverfügung der Polizei und nicht erst die gegen 18:30 Uhr erlassene zweite schriftliche Verfügung der Versammlungsbehörde die notwendige Aufhebung der Ausgangsverfügung vom 1. Juli beinhaltet hat (vgl. Rusteberg 2017).
[12] Die Polizei geht davon aus, ihre mündliche (Zwischen-)Verfügung auf der Rechtsgrundlage des § 15 VersG als unaufschiebbare Maßnahme eines Polizeivollzugsbeamten (§ 80 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) erlassen zu haben, weswegen sie auch keiner Begründung bedurfte (vgl. abweichend Franke/Schröter 2017). Dafür spricht, dass die Entscheidung vom Polizeiführer getroffen und vom Einsatzleiter vor Ort verkündet wurde. Außerdem hatte die Versammlung – jedenfalls zum Zeitpunkt der Verkündung – bereits begonnen bzw. sollte mit den hierfür notwendigen Aufbauten begonnen werden, was regelmäßig die Zuständigkeit der Polizei auslöst. Dagegen spricht, dass mit der Zwischenverfügung nur ein Übergangszustand bis zum Erlass der eigentlichen Verfügung durch die Versammlungsbehörde geregelt werden sollte, die Polizei also gar keine eigene Zuständigkeit begründet hatte. Dabei ging es wohlgemerkt um die gleiche Versammlung, die am 2. Juli um 12 Uhr beginnen und am 9. Juli (18 Uhr) enden sollte. Aus der (Außen-)Sicht einer verständigen Beobachterin musste also der Eindruck entstehen, die Polizei sei hier nur als Bote der Versammlungsbehörde tätig geworden. In diesem Fall aber hätte die sofortige Vollziehbarkeit der Zwischenverfügung extra angeordnet und schriftlich begründet werden müssen (§ 80 Abs. 2 Nr. 4 und Abs. 3 VwGO).
[13] Eine Referenz auf die ikonische Klobürste, die als Symbol der Subversion im Zuge der Ausrufung des Gefahrengebiets in Hamburg Altona und St. Pauli im Jahr 2014 bekannt wurde.
[14] Laut Protokoll des EPHK Strohmann führte dieser allerdings bereits um 13:17 Uhr ein Kooperationsgespräch bezüglich einer freizuhaltenden Rettungsgasse im Bereich des Ausschläger Elbdeiches (42013-DOK: 14).
[15] In § 104 Abs. 3 StPO ebenso wie in § 16 Abs. 3 HamSOG und § 25 HmbVwVG werden polizeiliche Maßnahmen während der Nachtzeiten an besondere Voraussetzungen geknüpft. Als Nachtzeit gelten danach vom 1. April bis 30. September die Stunden von 21 Uhr bis 4 Uhr morgens. Aufgrund der Nachtzeitschranke ist z.B. das Betreten und Durchsuchen von Wohnungen nur zur Abwehr von Emissionsstörungen oder wegen Gefahr für Leib und Leben von Personen zulässig (nicht aber zur Sicherstellung von Sachen oder Ingewahrsamnahme von Personen). Vollstreckungsmaßnahmen dürfen zwischen 21 Uhr und 6 Uhr nur unter den Voraussetzungen des § 27 HmbVwVG zur Beseitigung von Störungen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung, zum Schutz der Allgemeinheit oder Einzelner vor einer unmittelbar bevorstehenden Gefahr oder zur Verhinderung rechtswidriger Handlungen, die einen Straf- oder Bußgeldtatbestand verwirklichen, erfolgen, wovon die Polizei im Hinblick auf § 29 Abs. 1 Nr. 3 VersG offensichtlich ausging.
[16] Bei der „Kammer 75“ handelte es sich um eine Sammelbezeichnung für verschiedene Kammern innerhalb der anlässlich des G20-Gipfels beim VG Hamburg eingerichteten Sondergeschäftsverteilung, die eine durchgehende Arbeitsfähigkeit des Gerichtes gewährleisten sollte. Daher wechselten sich die Kammern und Richter*innen innerhalb der Kammer 75 planmäßig ab.
[17] OVG Lüneburg, Urteil vom 29. Mai 2008, Az. 11 LC 138/06, DVBl. 2008, S. 987.
[18] Was in beiden Fällen in dieser Form, wie oben dargelegt, nicht stimmte.
[19] Vgl. Interview mit Polizeipressesprecher Timo Zill vom 3. Juli 2017 (Online, zuletzt aufgerufen am 29.08.2018).
[20] Anders als in den Entscheidungen zur Durchführung von Demonstrationen innerhalb der Transferzone, vgl.VG Hamburg, Beschluss vom 20.06.2017, Az. 19 E 6258/17 (Protestcamp Stadtpark II); Beschluss vom 27.06.2017, Az. 16 E 6288/17 („Solidarische Oase Gängeviertel“); Beschluss vom 28.06.2017, Az. 20 E 6320/17 („G20 – not welcome“); Beschluss vom 29.06.2017, Az. 3 E 6431/17 (Mahnwache „Pro-Erdogan“); Beschluss vom 30.06.2017 („Freihandel Macht Flucht“); Beschluss vom 30.06.2017, Az. 7 E 6480/17 („Gutes Leben für alle statt Wachstumswahn“); Beschluss vom 03.07.2017, Az. 5 E 6475/17 („Neoliberalismus ins Museum“); Beschlüsse vom 04.07.2017, Az. 75 G 4/17, 75 G 5/17, 75 H 6/17, 75 G 7/17 (Spontandemonstrationen in der Transferzone); Beschluss vom 05.07.2017, Az. 75 G 10/17 (AStA HAW Hamburg); OVG Hamburg, Beschluss vom 03.07.2017, Az. 4 Bs 141/17 („G20 – not welcome“); Beschluss vom 03.07.2017, Az. 4 Bs 142/17 („Solidarische Oase Gängeviertel“); Beschlüsse vom 06.07.2017, Az. 4 Bs 153/17 („Gutes Leben für alle statt Wachstumswahn“), 4 Bs 155/17 („Freihandel Macht Flucht“), 4 Bs 156/17 („Neoliberalismus ins Museum“); dazu Mehde 2018.
[21] BVerfGE 69, 315 (Leitsatz Nr. 4): „Steht nicht zu befürchten, daß eine Demonstration im ganzen einen unfriedlichen Verlauf nimmt oder daß der Veranstalter und sein Anhang einen solchen Verlauf anstreben oder zumindest billigen, bleibt für die friedlichen Teilnehmer der von der Verfassung jedem Staatsbürger garantierte Schutz der Versammlungsfreiheit auch dann erhalten, wenn mit Ausschreitungen durch einzelne oder eine Minderheit zu rechnen ist“.