von Moritz Sommer und Sebastian Haunss
ABSTRACT Bei den Mobilisierungen zu den G20-Protesten in Hamburg ist die ‚Gewaltfrage‘ und die Frage nach den Grenzen von Protest allgegenwärtig. Der Beitrag vergleicht und erklärt Einstellungsmuster zu Formen konfrontativen Protests unter Teilneh-mer*innen der Demonstrationen ‚Protestwelle‘ am 2. Juli 2017 und ‚Grenzenlose Solidarität statt G20‘ am 8. Juli 2017. Die Ergebnisse zeigen, dass sich die Spaltung der mobilisierenden Organisationen entlang der taktischen Ausrichtung der Proteste überraschend wenig in den Einstellungsmustern der Protestierenden widerspiegelt. Die Haltung gegenüber der Polizei trägt maßgeblich zur Akzeptanz oder Ablehnung konfrontativer Protestformen bei. Titelbild: Georg Wendt für Protestwelle (cc-by via Flickr) |
1. Der Kontext
Die Proteste gegen den G20-Gipfel in Hamburg reihen sich ein in eine lange Serie von Gipfelprotesten, die sich gegen die Politik der G7, G8 und G20 sowie gegen die Politik der internationalen Organisationen Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IWF) richteten. In Deutschland kam es zuletzt 2007, beim G8-Gipfel in Heiligendamm und 2015, beim G7-Gipfel 2015 in Elmau, zu größeren Protesten. Dabei gab es deutliche Unterschiede bei der Mobilisierung und bei den Protestformen. Beim G8-Gipfel in Heiligendamm einigte sich das Protestbündnis auf eine gemeinsame Auftaktdemonstration am Samstag vor Beginn des offiziellen Gipfels. Bei dieser Demonstration kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und einem Teil der Demonstrant*innen aus dem linksradikalen Spektrum. Die Eskalation stellte den Zusammenhalt des Protestbündnisses infrage, auch wenn nach dem friedlichen Verlauf der weiteren Proteste insgesamt eine positive Einschätzung bei den Protestorganisator*innen dominierte (Teune 2008).
Bei den Protesten gegen den G7-Gipfel in Elmau im Jahr 2015 konnten sich die zu den Protesten aufrufenden Gruppen nicht mehr auf eine gemeinsame Protestchoreographie einigen. Gruppen vor allem aus dem linksradikalen Spektrum mobilisierten zu Demonstrationen und Blockaden am Gipfelort in der Nähe von Garmisch-Partenkirchen, an denen sich zwischen 3.600 (Polizeiangaben) und 7.000 (Veranstalter) Menschen beteiligten. Deutlich mehr Personen (Polizei 34.000, Veranstalter 40.000) hatten sich an der bereits zwei Tage vor dem Gipfel stattfindenden Demonstration in München beteiligt, zu der vor allem Gruppen aus dem gemäßigt linken Spektrum aufgerufen hatten. Entgegen dem von Polizei und Politik im Vorfeld aufgebauten Bedrohungsszenario[1] blieben beide Proteste jedoch friedlich und es kam nur am Rande zu Rangeleien zwischen Polizei und Demonstrant*innen.
Die beiden vorangegangenen Gipfelproteste bilden den Hintergrund für die Mobilisierung gegen den G20-Gipfel 2017 in Hamburg. Nicht wenige der beteiligten Aktivist*innen und Organisationen hatten sich bereits an beiden vorangegangenen Gipfelprotesten beteiligt. Und ähnlich wie bei den vorangegangenen Protesten (Leach & Haunss 2010) werden auch die Vorbereitungen zu den G20-Protesten bald von Schreckensszenarien und der Warnung vor Ausschreitungen und Krawallen begleitet. Schon Monate vor Beginn der Proteste problematisieren Teile der Medien und der Politik die in ihren Augen fehlende Distanzierung von Gewalt unter Teilen der Organisator*innen[2]. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Ausschreitungen während der Auftaktkundgebung der G8-Proteste 2007 und der konfliktreichen Hamburger Protestgeschichte erregt die sogenannte ‚Gewaltfrage‘ die Gemüter. Martialisch anmutende Mobilisierungsvideos und eine bisweilen aggressive Bildsprache in Teilen des Protestspektrums tun ihr übriges; bereits lange vor der Eskalation im Juli 2017 überschatteten Gewaltdiskurse die Mobilisierung zu den Protesten. Das hat auch Folgen für den Zusammenhalt innerhalb des Protestspektrums:
Die unweigerliche Auseinandersetzung um die Grenzen von Protest und die Legitimität bestimmter Protestformen wirkt sich alsbald auf die in der „G20-Plattform“ zusammengeschlossenen Organisationen aus. Bereits im Spätwinter 2017 verkündet eine Gruppe um das Aktionsnetzwerk Campact, dem BUND und anderen Organisationen ihren Rückzug aus der Plattform. Erklärtes Ziel des neuen Bündnisses ist die Planung einer eigenen Großdemonstration ‚G20-Protestwelle‘ im Vorfeld des Gipfels und damit auch vor der vom „G20-Bündnis“ geplanten zentralen Abschlusskundgebung ‚Grenzenlose Solidarität statt G20‘ am 8. Juli 2017. Die Spaltung der ‚Plattform‘ allein auf die ‚Gewaltfrage‘ zu reduzieren wäre allerdings verkürzt. Inhaltliche Differenzen und die Reichweite der Kritik sind, wie schon bei den Protesten gegen das G7-Treffen 2015, ein wesentlicher Faktor. In den Aufrufen steht eine radikale Ablehnung der G20 als Repräsentant des globalen Kapitalismus einem eher auf die Reform der G20 setzenden Form des ‚appellativen‘ Protests gegenüber, wie sie von den in der ‚Protestwelle‘ vertretenen Organisationen propagiert wird. Der G20-Gipfel, der im Gegensatz zu den G7/G8 tatsächlich große Teile der Weltbevölkerung verträte[3], wird nicht per se als illegitim abgelehnt. Vielmehr werden konkrete Forderungen an den Gipfel gerichtet. Campact-Geschäftsführer Christoph Bautz grenzt sich folglich von den Organisator*innen der Abschlusskundgebung ab: „Wir unterscheiden uns ein Stück von der Demo am 8. Juli. Die lehnen die G20 ab – wir aber lehnen die Politik der G20 ab.“[4]. Daneben treten auch unterschiedliche inhaltliche Schwerpunktsetzungen: Die Organisator*innen der ‚Protestwelle‘ fokussieren die Themen Umwelt- und Klimaschutz, gerechter Welthandel, soziale Gerechtigkeit und eine Stärkung der Demokratie. Auch die „G20-Plattform“ greift diese Kritik an den G20 auf, setzt aber zusätzlich Akzente auf die Themen Krieg und Flucht, Rassismus und – wie im Motto angelegt – internationale Solidarität.
Neben inhaltlichen Unterschieden treten auch taktische Differenzen deutlich zu Tage. Zum einen gilt das für den Zeitpunkt der Demonstrationen. So begründet Bautz den frühen Termin der ‚Protestwelle‘ mit der besseren Wahrnehmbarkeit: Diese gelänge „am besten, wenn man vorher auf die Straße geht …, wo noch nicht alles überstrahlt wird von den Bildern der Staats- und Regierungschefs.“[5]Wichtiger und kontroverser aber ist die Frage, inwieweit störend in die Abläufe des Gipfels eingegriffen werden solle und ob man sich bereits im Vorfeld von militanten und möglicherweise gewaltvollen Aktionen distanzieren müsse. Am deutlichsten manifestieren sich die taktischen Differenzen bei der Frage nach der Legitimität von Blockaden als Protestmittel gegen den Gipfel. Bautz, der im Vorfeld vermehrt als Sprachrohr der ‚Protestwelle‘ in Erscheinung tritt, bringt die Grenzziehung auf den Punkt: Sitzblockaden seien „das falsche Signal“, denn es sei wichtig, „dass in diesen Krisenzeiten Regierungschefs miteinander reden – auch wenn leider häufig die falsche Politik dabei rauskommt“[6]. In einem gemeinsamen Interview in der taz kontert ein Sprecher der Interventionistischen Linken, die die ‚G20-Plattform‘ vertritt und offen zu Blockaden als Protestmittel aufruft: „Trump wirft die „Mutter aller Bomben“, Merkel und ihre europäischen Komplizen lassen Tausende im Mittelmeer ertrinken – aber Blockaden sind unangemessen?“[7].
Neben diesen expliziten gibt es auch implizite Formen der Abgrenzung, gerade von Seiten der Organisator*innen der ‚Protestwelle‘. So wird die Friedfertigkeit der eigenen Demonstration wiederholt und nachdrücklich betont und somit der oft als uneindeutig kritisierten Positionierung einiger linksradikaler Organisationen der ‚Plattform‘ entgegengestellt. „Wir wollen einen friedlichen Protest und nicht in Krawalle hineingeraten“, sagt Angelika Gardiner von Mehr Demokratie Hamburg und Günter Beling vom DGB Nord ergänzt, man wolle sich „nicht mit der anderen Demo auseinandersetzen. Wir wollen friedliche Proteste“.[8] Damit wird die medial verbreitete und auch von den Sicherheitsbehörden kommunizierte Dichotomisierung zwischen „friedlichem“ (und damit legitimen) und „potentiell gewaltbereitem“ (und damit illegitimen) Protest reproduziert (Teune & Sommer 2017) (journalistische Spielräume). Kurz vor dem Beginn der Proteste berichtet beispielsweise das Abendblatt der Verfassungsschutz habe „vor der Teilnahme an von Linksextremen organisierten oder mit veranstalteten Anti-G20-Demonstrationen [inklusive der Abschlussdemonstration] gewarnt“.[9] Und während die Demonstration am 2. Juli als ‚friedlich und familiär‘ wahrgenommen wurde, warnt Polizeipräsident Ralf Meyer am Morgen der Abschlussdemonstration, dass sich „Randalierer“ unter die Demonstration mischen würden: „Es ist davon auszugehen, dass erneut kein friedlicher Protest möglich sein wird“[10]. Entgegen der Warnungen blieb die Abschlusskundgebung, wie auch die ‚Protestwelle‘, trotz der durch die Vorkommnisse der Vortage angespannten Situation allerdings weitgehend ruhig.
Bei der früh beginnenden Fixierung auf die ‚Gewaltfrage‘ in Medien, Politik und bei einigen der mobilisierenden Organisationen geraten die Sichtweisen der Protestierenden schnell aus den Blick. Ob sich die Differenzen der Organisator*innen auch in den Einstellungsmustern der Demonstrationsteilnehmer*innen widerspiegeln, bleibt unklar. Auch die These des Abschreckungspotentials des Schwarzen Blocks für potentielle Demonstrationsteilnehmer*innen ist nicht belegt. Im Folgenden nehmen wir daher die Einstellungsmuster der Protestierenden in den Blick. Darüber hinaus untersuchen wir, in wie weit die Eskalation in der Protestwoche sich in dem Antwortverhalten der Protestierenden widerspiegelt. Dafür greifen wir auf die Ergebnisse von zwei Demonstrationsbefragungen zurück. Der Fragebogen beinhaltete auch Fragen zur gegenseitigen Wahrnehmung der beiden Demonstrationen, sowie zu Einstellungen gegenüber konfrontativen Protestformen und zur Einschätzung der Polizeibegleitung.
2. Die Befragungen der Demonstrationen
Die Befragung der beiden großen Bündnisdemonstrationen ‚Protestwelle‘ am 2. Juli 2017 und ‚Grenzenlose Solidarität statt G20‘ am 8. Juli 2017 zielte darauf ab, mehr über die Motive, Mobilisierungswege und politischen Hintergründe der Protestierenden zu erfahren.[11] Die Frage der Gewalt stand dabei nicht im Vordergrund des Interesses. Allerdings gab es auch einzelne Fragen zu diesem Themenkomplex. Eine umfassende Auswertung der Befragung ist bereits an anderer Stelle veröffentlicht worden (Haunss et al. 2017). Hier beschränken wir uns auf den Aspekt der Akzeptanz mehr oder weniger konfrontativer Aktionsformen und auf die Einschätzung des Agierens der Polizei und der jeweils anderen Demonstration.
2.1. Gegenseitige Wahrnehmung
Sowohl die Medien, als auch die Organisator*innen selbst trugen dazu bei, dass beide Demonstrationen auch als Konkurrenzveranstaltungen zweier sich unterscheidender Protestspektren verstanden wurden. Spiegelt sich diese Abgrenzung in der gegenseitigen Wahrnehmung der Demonstrationsteilnehmer*innen wieder? Die Frage nach der Wahrnehmung der jeweils anderen Demonstration zeigt, dass es einen relevanten Anteil unter den Befragten gibt, der die jeweils andere Demonstration kritisch sieht; auf der ‚Protestwelle‘ am 2. Juli geben 14 Prozent der Befragten an, die Demonstration ‚Grenzenlose Solidarität statt G20‘ am 8. Juli sei ihnen „zu radikal”. Umgekehrt geben bei der zweiten Demonstration am 8. Juli rund 30 Prozent an, ihnen sei die ‚Protestwelle’ „zu bürgerlich”. Vor allem auf der Abschlusskundgebung scheint es also Vorbehalte gegenüber der ‚Protestwelle‘ zu geben, die zumindest ansatzweise die gegenseitige Abgrenzung der Organisator*innen widerspiegelt.
Die Ergebnisse für die ‚Protestwelle‘ zeigen aber auch, dass 86% und damit die große Mehrheit der Befragten die Abschlusskundgebung nicht als „zu radikal“ empfindet. Eine generelle Ablehnung lässt sich daraus nicht ableiten. Das zeigt sich auch an anderer Stelle: Immerhin knapp 37% der Befragten auf der ‚Protestwelle‘ geben an, auch die Abschlusskundgebung besuchen zu wollen.[12] Unter denjenigen, die die Abschlusskundgebung als „zu radikal“ empfinden, ist es noch knapp jede*r Zehnte*r, die/der angeben die Demonstration am 8. Juli dennoch besuchen zu wollen.
In der Zusammenschau scheinen die Ergebnisse der These eines allgemeinen Abschreckungspotentials der Abschlusskundgebung zu widersprechen. Auch die deutlich höheren Teilnehmer*innenzahlen auf der Abschlusskundgebung passen nicht in dieses Bild. Insgesamt scheinen die medial verbreiteten Abgrenzungsdiskurse nur einen geringen Einfluss auf die gegenseitige Wahrnehmung der Protestierenden zu haben.
2.2. Radikal vs. gemäßigt?
Grundsätzlich haben die Auswertungen der Demonstrationsbefragungen gezeigt, dass die Demonstrierenden der Abschlusskundgebung sich im Vergleich zur ‚Protestwelle‘ etwas weiter im linken Spektrum verorten und in ihrer Kritik gegenüber den G20 etwas radikaler sind. Insgesamt sind sich die Teilnehmer*innen aber ähnlicher, als es die Entgegensetzung der beiden Demonstrationen im Vorfeld hätte erwarten lassen (siehe auch Haunss et al. 2017). Wie sieht es nun mit den Einstellungen zu unterschiedlichen Strategien des Protests aus?
Die Teilnehmer*innen beider Demonstrationen geben auf einer Skala von 1 (‚überhaupt nicht‘) bis 5 (‚voll und ganz ‘) an, in wie fern sie den folgenden Aussagen zustimmen. a) Blockaden sind ein legitimes Mittel des Protests gegen G20, b) Sachbeschädigungen sind ein nebensächliches Übel angesichts dessen, was auf dem Spiel steht, c) Bei einem gewalttätigen Vorgehen der Polizei ist Widerstand legitim, d) Gewalt ist legitim, um dem Protest Gehör zu verschaffen.
Die Tabelle 1 zeigt detailliert das Antwortverhalten für beide Demonstrationen. Wie erwartet tendieren Befragte auf der ‚Protestwelle‘ eher dazu konfrontative Formen des Protests abzulehnen.
Tabelle 1: Zustimmung zu konfrontativen Aktionsformen
Aktionsformen | voll und ganz | überwiegend | teils/teils | eher nicht | überhaupt nicht | N | Cramers V |
Blockaden | 0,270*** | ||||||
Demo 2. Juli | 34,30% | 24,95% | 22,45% | 12,47% | 5,82% | 481 | |
Demo 8. Juli | 58,03% | 23,41% | 10,70% | 5,02% | 2,84% | 598 | |
Sachbeschädigungen | 0,194*** | ||||||
Demo 2. Juli | 3,33% | 9,56% | 13,93% | 28,48% | 44,70% | 481 | |
Demo 8. Juli | 6,68% | 13,19% | 21,54% | 31,22% | 27,38% | 599 | |
Widerstand | 0,177*** | ||||||
Demo 2. Juli | 3,33% | 9,56% | 13,93% | 28,48% | 44,70% | 479 | |
Demo 8. Juli | 6,68% | 13,19% | 21,54% | 31,22% | 27,38% | 594 | |
Gewalt | 0,205*** | ||||||
Demo 2. Juli | 0,62% | 2,28% | 8,71% | 23,24% | 65,15% | 482 | |
Demo 8. Juli | 2,68% | 4,68% | 17,22% | 28,93% | 46,49% | 598 | |
* p < .05 ** p < .01 *** p < .001 |
Für alle Fragen ergibt sich mit der Berechnung des Zusammenhangsmaß Cramers V ein signifikanter Zusammenhang, von allerdings nur schwacher und – allenfalls bei der Frage nach der Legitimität von Blockaden – mittlerer Stärke. D.h. statistisch gibt es nur einen relativ schwachen Zusammenhang zwischen der Teilnahme an einer der beiden Demonstrationen und dem Antwortverhalten auf diese Fragen.
Dies ist interessant, weil es ja gerade die konfrontativeren Formen des Protests waren, bei denen die taktischen Differenzen der Organisator*innen am deutlichsten zutage traten. Interessanterweise beurteilen aber auch knapp 60% und damit die deutliche Mehrheit der Befragten der ‚Protestwelle‘ Blockaden als legitimes Mittel des Protests gegen den G20-Gipfel. Nicht einmal jede*r Fünfte folgt der ablehnenden Haltung der Organisator*innen. Dass bei einer genaueren Betrachtung die Differenzen zwischen den beiden Demonstrationen weniger groß sind, als man vielleicht erwartet hätte, zeigt auch eine Visualisierung der Antworten der Teilnehmer*innen beider Demonstrationen mit Hilfe von Boxplots, (Abbildung 1).
Abbildung 1: Verteilung der Antworten auf die Frage nach der Zustimmung zu verschiedenen Aktionsformen[13]
Während Blockaden als konfrontative Protestform von der Mehrheit der Demonstrierenden beider Demonstrationen befürwortet werden, wird Gewalt als generelles Mittel um dem Protest Gehör zu verschaffen ganz überwiegend abgelehnt. Auch das gilt demonstrationsübergreifend, auch wenn der Anteil derjenigen, die Gewalt als Protestmittel als ‚eher nicht‘ oder ‚überhaupt nicht‘ legitim erachten mit rund 88% auf der ersten Demonstration größer ist, als auf der zweiten Demonstration (~75%). Ähnlich groß sind die Unterschiede bei der Frage nach der Legitimität von Sachbeschädigung, allerdings wird diese Ausdrucksform des Protests insgesamt weniger kritisch gesehen. Auf der ‚Protestwelle’ halten rund 13% der Befragen Sachbeschädigungen für ein „nebensächliches Übel“, auf der Abschlusskundgebung sind es rund 20%. Insgesamt lässt sich aber festhalten, dass Gewalt als Protestform ganz überwiegend abgelehnt wird; die Unterschiede zwischen den Teilnehmer*innen der beiden Demonstrationen sind dabei eher gradueller Natur.
Etwas anders gelagert ist das Antwortverhalten bei der Frage nach der Legitimität von Widerstand im Falle von Polizeigewalt. Auf der zweiten Demonstration hält mehr als die Hälfte der Befragten (~56%) Widerstand für ‚voll und ganz‘ oder ‚überwiegend‘ gerechtfertigt. Hier könnten die Eindrücke der Protestwoche und insbesondere die Empörung über die Auflösung der ‚Welcome to Hell‘-Demonstration ein bestimmender Faktor gewesen sein. Aber auch bei der ‚Protestwelle‘ hält jede*r vierte Widerstand gegen Polizeigewalt für legitim. Vor dem Hintergrund, dass diese Demonstration zeitlich vor den Tagen der Eskalation lag, sind die nur geringen Unterschiede umso erstaunlicher.
Insgesamt zeigt sich auch in Bezug auf die Einstellungen zu konfrontativen Protestformen nur ein gradueller und mitnichten fundamentaler Unterschied zwischen den Befragten beider Demonstrationen. Auf der Basis der Befragung ist keine Entgegensetzung von radikalen und potentiell gewaltbereiten Demonstrierenden am 8. Juli und gemäßigten, friedliebenden Protestler*innen am 2. Juli zu erkennen.
2.3. Wahrnehmung der Polizei
Die Überlagerung der Mobilisierung zu den Protesten durch Gewaltdiskurse und die dann einsetzenden Bilder der Eskalation finden sich zumindest in Teilen auch in den Antworten auf die Frage nach der Motivation für den Protest wieder. Während in einer geschlossenen Frage mit mehreren, vorgegebenen Antwortmöglichkeiten nach den „Themen, die Ihnen bei der G20-Demonstration am wichtigsten sind“ nur relativ wenige das (nicht polizei-spezifische) Item „Repression und Überwachung“ auswählen (2. Juli: 2,7%; 8. Juli: 8,2%), hinterlassen unter den Befragten der Abschlusskundgebung[14] insbesondere bei der offenen Frage nach dem Anliegen, welches bei der Demonstration zum Ausdruck gebracht werden soll, die Eindrücke der Protestwoche ihre Spuren.
Zahlreiche Teilnehmer*innen thematisieren das Verhalten der Polizei an den Vortagen der Protestwoche. Ein Befragter versteht seine Teilnahme als „Ausübung des Demonstrationsrechts entgegen latenter Einschüchterungsversuche […] durch [das]Überbetonen angstschürender Ausschreitungsszenarien in polizeilicher Öffentlichkeitsarbeit und Medien“, ein anderer äußert die „Hoffnung, friedlich demonstrieren zu können, ohne von der Polizei in Angst und Schrecken versetzt zu werden“. Daneben finden sich – allerdings deutlich weniger oft – Distanzierungen von den Krawallen der Vortage, z.B. bei einem Befragten, der angibt dafür einzutreten, „dass Hamburg [nicht] als Gewaltstadt um die Welt geht, sondern als Stadt, die für lebendige Demokratie steht.“
Wenig überraschend ist, dass sich bei der Wahrnehmung der Polizeibegleitung der beiden Demonstrationen große Unterschiede zeigen (Tabelle 2 und 3). So geben auf der ‚Protestwelle‘ etwas mehr als die Hälfte der Befragten an, die Polizeibegleitung der Demonstration als „kooperativ“ wahrzunehmen; am 8. Juli sind es nur rund 20%. Noch deutlich größer sind die Unterschiede bei der entgegengesetzten Frage: Auf der Abschlusskundgebung geben fast 45% an, die Polizeibegleitung sei „sehr stark“ oder „stark“ aggressiv. Sechs Tage zuvor trifft das auf nur knapp 10% der Befragten zu.
Tabelle 2: Wahrnehmung der Polizeibegleitung
Wahrnehmung der Polizeibegleitung |
Sehr stark | Stark | Etwas | Wenig | Gar nicht | N | Cramers V |
kooperativ | 0,365*** | ||||||
Demo 2. Juli | 16,7% | 34,6% | 30,5% | 12,7% | 5,5% | 456 | |
Demo 8. Juli | 3,1% | 17,9% | 33,1% | 32,6% | 13,2% | 574 | |
aggressiv | 0,568*** | ||||||
Demo 2. Juli | 3,5% | 6,6% | 9,7% | 17,2% | 62,9% | 453 | |
Demo 8. Juli | 18,4% | 26,1% | 24,7% | 19,4% | 11,4% | 587 | |
* p < .05 ** p < .01 *** p < .001 |
Angesichts der Tatsache, dass es auch am 8. Juli zu keiner nennenswerten Konfrontation von Protestierenden und Polizei kam und dass die Polizei über weite Strecken nicht oder kaum zu sehen war, ist dieser große Unterschied, der auch von einem hohen Wert für das Zusammenhangsmaß Cramers V (0,568) statistisch dokumentiert ist, beachtlich. Das legt die Vermutung nahe, dass sich die gewaltsame Eskalation der Vortage auf eine kritische Haltung gegenüber der Polizei ausgewirkt hat.
Die Interpretation deckt sich mit deutlich niedrigeren Vertrauenswerten für die Polizei auf der zweiten Demonstration (siehe Tabelle 3) und zumindest teilweise in der höheren Akzeptanz von Widerstand im Falle von Polizeigewalt unter den Befragten der ‚Abschlusskundgebung‘ (siehe oben).
Tabelle 3: Vertrauen in die Polizei
Demo 2. Juli | Demo 8. Juli | |
Voll und Ganz | 4,4% | 1,9% |
Weitgehend | 39,8% | 21,8% |
Teilweise | 32,8% | 35,3% |
Eher nicht | 18,3% | 27,7% |
Überhaupt nicht | 4,6% | 13,3% |
N | 475 | 592 |
Cramers V = 0,247*** / * p < .05 ** p < .01 *** p < .001 |
2.4. Was beeinflusst die Akzeptanz konfrontativer Protestformen?
In den vorangehenden deskriptiven Analysen stand der Vergleich der beiden Demonstrationen im Vordergrund. Dabei hat sich gezeigt, dass sich die Akzeptanz konfrontativer Protestformen zwar voneinander unterschiedet, dieser Unterschied aber nur schwach ausgeprägt und eher gradueller Natur ist. Unklar ist noch, welche konkreten Faktoren die Akzeptanz dieser Protestformen auf den G20-Demonstrationen prägen. Darüber sagen die Unterschiede unter den beiden Demonstrationen nichts aus.
Aus der Literatur und aus der Medienberichterstattung im Vorfeld des Gipfels lassen sich Hypothesen ableiten, die wir im Folgenden mit Hilfe einer multiplen, linearen Regression testen. Nicht alle Hypothesen sind dabei theoretisch fundiert, sondern ergeben sich zum Teil eher aus verbreiteten Klischees und medialen Deutungen.
1) Politische Orientierung: Eine Erklärungsvariante, die die politische Orientierung in den Mittelpunkt der Analyse stellt, legt nahe, dass die Akzeptanz konfrontativer Protestmittel ein Resultat der individuellen ‚Radikalität‘ der Demonstrierenden ist. Dabei gilt: Je weiter links der Selbstpositionierung der Demonstrant*innen, desto eher wird dazu tendiert, konfrontative Protestformen als legitim zu erachten.
2) Mobilisierungshintergrund: Eine Erklärungsvariante auf der Meso-Ebene fokussiert den Mobilisierungshintergrund der Demonstrierenden. Dabei wird argumentiert, dass die Akzeptanz konfrontativer Protestmittel als Ergebnis spezifischer Strategiedebatten in Organisationen zu verstehen ist. Dabei gilt: Protestierende, die sich im Kontext von Organisationen mobilisiert haben, die für den Einsatz konfrontativer Protestmittel einstehen, tendieren eher dazu diese zu befürworten, als Protestierende, die sich im Kontext gemäßigterer Organisationen mobilisiert haben.
3) Demonstrationserfahrung: In der medialen Berichterstattung zu konflikthaften Protesten ist immer wieder die These der ‚Berufsdemonstranten‘ zu vernehmen, die Demonstrationen als Anlass nehmen würden, Krawall zu stiften. Nach dieser Deutung ließe sich vermuten, dass die Akzeptanz konfrontativer Konfliktformen mit der Demonstrationserfahrung korreliert. Dabei gilt: Je häufiger Befragte angeben zu Demonstrationen zu gehen, desto eher werden konfrontative Protestmittel akzeptiert.
4) Staatsnähe: Eine weitere Variante zur Erklärung der Akzeptanz konfrontativer Protestformen kann unter dem Oberbegriff der ‚Staatsnähe‘ zusammengefasst werden. Demnach ist die Verbreitung dieser Protestformen insbesondere bei Demonstrierenden vertreten, die sich wenig mit dem Staat und seinen Institutionen identifizieren können und das staatliche Gewaltmonopol nicht akzeptieren. Diese zwei Aspekte aufgreifend, lassen sich zwei Erwartungen formulieren:
a) Die Akzeptanz konfrontativer Protestformen korreliert mit der Bewertung der Funktionsweise der Demokratie in Deutschland (Demokratiezufriedenheit). Dabei gilt: Je eher Befragte angeben mit dem Zustand der Demokratie unzufrieden zu sein, desto eher wird dazu tendiert, konfrontative Protestmittel zu befürworten
b) Die Akzeptanz konfrontativer Protestformen hängt mit dem Vertrauen in die Polizei als Repräsentant des Gewaltmonopols und als ihr unmittelbarer Vertreter im Demonstrationsgeschehen zusammen. Dabei gilt: Je eher Befragte angeben der Polizei nicht zu vertrauen, desto eher wird dazu tendiert, konfrontative Protestmittel zu befürworten
5) Eindrücke der Protestwoche: Positive Einstellungen zu konfrontativen Protestformen könnten auch ein Resultat der Eindrücke der eskalativen Protestwoche zwischen dem 02. und dem 8. Juli sein (siehe oben). Demnach würde der Eindruck massiver Polizeieinsätze und Eingriffe in das Demonstrationsrecht die Bereitschaft der Demonstrierenden zu Sachbeschädigung, Gewalt, Widerstand und Blockaden begünstigen. Dabei gilt: Befragte am 8. Juli tendieren eher dazu konfrontative Protestmittel zu befürworten, als Befragte am 2. Juli.
6) Anreise: Ähnlich gelagert wie die These der Demonstrationserfahrung ist die der „von außerhalb angereisten Gewalttäter“, die insbesondere in Teilen der Hamburger Politik vertreten wurde. Übersetzt man diese Behauptung in eine Hypothese, dann wird angenommen, dass Befragte, die von außerhalb Hamburgs angereist sind, eher dazu tendieren konfrontativen Formen des Protests positiv gegenüber zu stehen.
In Tabelle 4 werden alle sieben Hypothesen für alle vier oben beschriebenen abhängigen Variablen[15] – Akzeptanz von Gewalt, Blockaden, Sachbeschädigung und Widerstand gegen Polizeigewalt – getestet. Die sieben zentralen Hypothesen wurden wie folgt operationalisiert: a) Die politische Orientierung wird mit Hilfe der Links-Rechts-Selbsteinschätzung (11er-Skala) operationalisiert, wobei der Wert 1 eine Selbstpositionierung am äußersten rechten Rand angibt. b) Der Mobilisierungshintergrund wurde mit Hilfe der Frage „Über welche Organisation haben Sie von der G-20-Demonstration erfahren?“ operationalisiert. Die Antworten wurden im Folgenden in einer dichotomen Variable zusammengefasst, bei der der Wert 0 den Mobilisierungsweg über eine als ‚gemäßigt‘ eingeschätzte Organisation angibt. c) Auch die Demonstrationserfahrung wurde binär kodiert, wobei ein Wert von 0 eine Beteiligung von unter 10 Demonstrationen in den letzten 5 Jahren angibt und ein Wert von 1 entsprechend 10 oder mehr Beteiligungen. d) Demokratiezufriedenheit[16] und Vertrauen in die Polizei wurden jeweils in einer 5er-Skala erfasst. Bei der Frage nach der Demokratiezufriedenheit gibt eine Wert von 1 an „sehr unzufrieden“ zu sein; bei der Frage nach dem Vertrauen in die Polizei gibt ein Wert von 1 an der Polizei „überhaupt nicht“ zu vertrauen. e) Die Eindrücke der Protestwoche wurden annäherungsweise über den Zeitpunkt der Befragung in einer Dummy-Variable operationalisiert. Ein Wert von 0 gibt eine Befragung auf der Demonstration am 2. Juli an, ein Wert von 1 eine Befragung auf der Demonstration am 8. Juli. f) Ebenfalls binär kodiert wurde der Wohnort der Demonstrierenden. Ein Wert von 0 gibt den Wohnort Hamburg an, ein Wert von 1 eine Anreise von außerhalb Hamburgs.
Zusätzlich wurden mit dem Alter (metrisch skaliert), dem Geschlecht (binär, 0 ‚weiblich‘, 1 ‚männlich‘) und dem Bildungsstand der Befragten (0 ‚kein Studium‘, 1 ‚Studium‘) drei Kontrollvariablen in die Analyse aufgenommen.
Tabelle 4: Regressionsmodelle
Gewalt | Blockaden | Sachbeschädigung | Widerstand | ||
Links-Rechts Selbsteinstufung |
β | 0,088*** | 0,169*** | 0,127*** | 0,146*** |
(1-11; 1 = „ganz rechts“) | βs | 0,117 | 0,186 | 0,134 | 0,155 |
SE | 0,024 | 0,029 | 0,029 | 0,030 | |
Mobilisierungshintergrund | β | 0,424*** | 0,292** | 0,459*** | 0,323** |
(0-1; 0 = „gemäßigt“) | βs | 0,161 | 0,092 | 0,139 | 0,097 |
SE | 0,081 | 0,098 | 0,097 | 0,101 | |
Demonstrationserfahrung | β | 0,130 | 0,116 | 0,194* | -0,024 |
(0-1; 0 = „wenig“) | βs | 0,057 | 0,042 | 0,067 | -0,008 |
SE | 0,070 | 0,085 | 0,083 | 0,088 | |
Vertrauen in die Polizei | β | -0,237*** | -0,229*** | -0,318*** | -0,357*** |
(1-5; 1 = „überhaupt nicht“) | βs | -0,255 | -0,203 | -0,272 | -0,304 |
SE | 0,033 | 0,040 | 0,040 | 0,041 | |
Demokratiezufriedenheit | β | -0,045 | -0,069 | -0,143*** | -0,090* |
(1-5; 1 = „sehr unzufrieden“) | βs | -0,048 | -0,061 | -0,121 | -0,076 |
SE | 0,031 | 0,038 | 0,037 | 0,039 | |
Demonstrationsteilnahme | β | 0,139* | 0,277*** | 0,057 | 0,094 |
(0-1; 0 = „Demo 2. Juli“) | βs | 0,073 | 0,121 | 0,024 | 0,040 |
SE | 0,056 | 0,069 | 0,067 | 0,071 | |
Wohnort/Anreise | β | -0,042 | -0,067 | 0,007 | -0,060 |
(0-1; 0 = „Hamburg“) | βs | -0,022 | -0,029 | 0,003 | 0,040 |
SE | 0,054 | 0,065 | 0,064 | 0,067 | |
Alter | β | 0,000 | -0,007** | -0,008*** | -0,010*** |
(metrisch) | βs | -0,004 | -0,099 | -0,108 | -0,144 |
SE | 0,002 | 0,002 | 0,002 | 0,002 | |
Geschlecht | β | 0,193*** | 0,196** | 0,311*** | -0,054 |
(0-1; 0 = „weiblich“) | βs | 0,102 | 0,085 | 0,131 | -0,023 |
SE | 0,055 | 0,067 | 0,066 | 0,069 | |
Bildung | β | -0,018 | -0,067 | 0,013 | -0,046 |
(0-1; 0 = „kein Studium“) | βs | -0,009 | -0,028 | 0,005 | -0,018 |
SE | 0,056 | 0,068 | 0,067 | 0,070 | |
R2 | 0,247 | 0,249 | 0,322 | 0,268 | |
R2 korr. | 0,239 | 0,241 | 0,315 | 0,260 | |
N | 1080 | 1079 | 1080 | 1073 |
* p < .05 ** p < .01 *** p < .001
Alle Modelle weisen eine mittlere Erklärungsleistung auf. Die stärkste Varianzaufklärung weisen die unabhängigen Variablen für Modell 3, die Frage nach der Legitimität von Sachbeschädigungen auf (R2 korr. = 0,315).
Die Hypothesen 1, 2 und 4b können bestätigt werden. Befragte, die sich eher links einordnen, eher im Kontext links-radikaler Organisationen mobilisiert wurden und der Polizei weniger vertrauen, tendieren eher dazu Gewalt, Blockaden, Sachbeschädigung und Widerstand gegen Polizeigewalt als legitim zu betrachten.[17] Für alle drei Variablen ergibt sich jeweils ein signifikanter, positiver Zusammenhang.
Die Ergebnisse für die Hypothesen 4a und 5 sind weniger eindeutig. Für den Zusammenhang von der Zufriedenheit mit der Demokratie und Einstellungen gegenüber den abgefragten Protestformen ergibt sich allein für die Frage nach der Legitimität von Sachbeschädigungen und mit Abstrichen auch für die Frage nach der Legitimität von Widerstand gegen Polizeigewalt ein signifikanter Zusammenhang. Der Erwartung entsprechend gilt für die Richtung, dass die Akzeptanz von Sachbeschädigung (und Widerstand) als legitimes Mittel mit der Unzufriedenheit mit dem Zustand der Demokratie zunimmt. Interessanterweise spielt auch der Zeitpunkt der Demonstrationsteilnahme bzw. die Eindrücke der Protestwoche in Hamburg nur eine relativ geringe Rolle. Allein für die Frage nach der Legitimität von Blockaden (und mit Abstrichen für die Frage nach der generellen Legitimität von Gewalt) zeigt sich ein signifikant positiver Zusammenhang, der hier meint, dass eine Beteiligung an der Demonstration am 8. Juli eher mit einer positiven Einstellung gegenüber Blockaden einhergeht. Die weiter oben geäußerte Vermutung, die Eindrücke der Eskalation trügen zu einer höheren Widerstandsbereitschaft im Falle von Polizeigewalt bei, kann auf Grundlage dieser Ergebnisse nicht bestätigt werden.
Für die Hypothesen 3 und 6 gibt es kaum signifikante Ergebnisse. Die Demonstrationserfahrung und der Wohnort/Anreise spielen (so gut wie) keine Rolle für die Erklärung von Einstellungsmustern. Auch Bildung spielt keine Rolle. Anders die Kontrollvariablen Geschlecht und Alter: Für drei Einstellungsfragen gibt es einen signifikanten, wenn auch schwachen Zusammenhang mit den Angaben zum Geschlecht. Der positive Zusammenhang meint hier, dass Männer die Legitimität konfrontativer Protestformen weniger kritisch sehen als Frauen. Ein ähnlich schwacher, aber erneut in drei Fällen signifikanter Zusammenhang besteht zwischen dem Alter und der Akzeptanz konfrontativer Protestformen. Ältere Menschen stehen den Mitteln der Blockade und Sachbeschädigung, sowie der Legitimität von Widerstand im Angesicht von Polizeigewalt eher ablehnend gegenüber als jüngere Menschen.
Interessant ist abschließend der Vergleich der Effektstärken. Dieser gibt Aufschluss darüber, welche unabhängige Variable den stärksten Zusammenhang und somit die beste Erklärungsleistung für das Antwortverhalten zur Akzeptanz konfrontativer Protestformen hat. Zum Vergleich der Effektstärken bietet sich der standardisierte Beta-Koeffizient βs an. Allerdings lassen sich in erster Linie die nicht-binär skalierten Variablen sinnvoll miteinander vergleichen. Hier zeigt sich, dass Vertrauen in die Polizei im Vergleich mit der Links-Rechts-Einstufung, der Demokratiezufriedenheit (und dem Alter) für alle abgefragten Einstellungen jeweils die stärkste Korrelation aufweist. Kaum verwunderlich ist, dass diese für den Zusammenhang zwischen Vertrauen in die Polizei und der Frage nach der Legitimität von Widerstand im Fall von Polizeigewalt am stärksten ist. Im Vergleich der Dummy-Variablen weist der Mobilisierungshintergrund den stärksten Effekt auf.
In der Gesamtschau aller unabhängigen Variablen scheint der Zusammenhang zwischen dem Vertrauen in die Polizei und den Einstellungsmustern zu Protestformen am stärksten zu sein. Zumindest annäherungsweise weisen auch die höheren Werte der standardisierten Beta-Koeffizienten auf die zentrale Erklärungsleistung der Variable Polizeivertrauen hin.
Die Ergebnisse legen nahe, dass unter allen hier untersuchten Zusammenhängen das Misstrauen gegenüber der Polizei als Repräsentantin des staatlichen Gewaltmonopols und als unmittelbare Gegenspielerin im Demonstrationsgeschehen ein zentraler, aber bei weitem nicht der einzige Ansatzpunkt ist, um die Akzeptanz konfrontativer Protestformen zu erklären. Darüber hinaus zeigt die Analyse, dass das Antwortverhalten nicht als kurzfristiger Effekt der Eindrücke der Eskalation, sondern vielmehr als das Ergebnis langfristig bedingter Einstellungsmuster zu verstehen ist. Die eher auf Klischees begründeten und in den Medien und politischen Kreisen verbreiteten Thesen der ‚gewaltbereiten Berufsdemonstrant*innen‘ und der ‚zugereisten Randalierer*innen‘ sind empirisch nicht haltbar.
3. Fazit
Zusammenfassend lässt sich durch die Auswertung der Befragungsdaten zeigen, dass die politische und taktische Ausrichtung der zu den beiden Demonstrationen mobilisierenden Organisationen einen überraschend schwachen Einfluss auf das Spektrum der Einstellungen der jeweils anwesenden Demonstrierenden hat. Die jeweils aufrufenden Organisationen unterscheiden sich in ihrer Positionierung viel deutlicher voneinander als die Teilnehmer*innen der Demonstrationen. Insbesondere fällt auf, dass vor allem die Teilnehmer*innen der ersten Demonstration konfrontativen Protestformen deutlich aufgeschlossener gegenüberstehen als die Organisator*innen der Demonstration. Mit Blick auf die Demonstrierenden ist die Spaltung des Protestbündnisses entlang demonstrationstaktischer Fragen im Nachhinein nicht nachzuvollziehen. Auch die gegenseitige Wahrnehmung der Demonstrierenden ist weit weniger kritisch als es die gegenseitigen Abgrenzungen der Organisator*innen erwarten ließ.
Auf beiden Demonstrationen sind sich die Teilnehmer*innen untereinander jedoch keineswegs einig darüber, welche Formen des Protests der Situation angemessen wären. Wenig überraschend korreliert eine höhere Akzeptanz konfrontativerer Aktionsformen vor allem mit einer linkeren politischen Selbstverortung und einem radikaleren Mobilisierungshintergrund, also eine Nähe zu Organisationen aus dem linksradikalen Spektrum. Ebenfalls wenig überraschend sind es eher die jüngeren Männer, die eine größere Sympathie für konfrontativere Aktionsformen hegen.
Die größte Differenz zwischen beiden Demonstrationen zeigt sich in der Wahrnehmung der Polizeibegleitung – angesichts des Verhaltens der Polizei im Verlauf der Proteste ist auch das kein überraschendes Ergebnis. Allerdings gibt es keine Hinweise darauf, dass das eskalierende Auftreten der Polizei während der Proteste Einfluss auf die Akzeptanz konfrontativer Aktionsformen gehabt hat. Diese sind weniger ein Produkt des Augenblicks als Ausdruck langfristigerer Überzeugungen. Auf individueller Ebene ist das Misstrauen gegenüber der Polizei der stärkste Prädiktor für eine Akzeptanz konfrontativerer Aktionsformen. Durchgehend wird initiativ von den Demonstrierenden ausgehende Gewalt ganz überwiegend klar abgelehnt, während Gegenwehr gegen von der Polizei ausgehende Gewalt durchaus befürwortet wird. Dabei steigert auf vergangenen Erfahrungen beruhendes Misstrauen gegenüber der Polizei noch einmal die Bereitschaft zur Konfrontation.
4. Literatur
Haunss, S., P. Daphi, L. Gauditz, P. Knopp, M. Micus, P. Scharf, S. Schmidt, M. Sommer, S. Teune, R. Thurn, P. Ullrich & S. Zajak, 2017: #NoG20. Ergebnisse der Befragung von Demonstrierenden und der Beobachtung des Polizeieinsatzes (ipb working papers, November 2017). Berlin: Institut für Protest- und Bewegungsforschung.
Leach, D.K. & S. Haunss, 2010: “Wichtig ist der Widerstand”: Rituals of Taming and Tolerance in Movement Responses to the Violence Question. S. 73–98 in: F. Heßdörfer, A. Pabst & P. Ullrich (Hrsg.), Prevent and Tame. Protest under (Self-)Control. Berlin: Dietz.
Teune, S., 2008: Gegen Zaun, Gipfel und Käfighaltung. Eine Chronik des Protests gegen das G8-Treffen in Heiligendamm. S. 17–29 in: D. Rucht & S. Teune (Hrsg.), Nur Clowns und Chaoten? Die G8-Proteste in Heiligendamm im Spiegel der Massenmedien. Frankfurt – New York: Campus.
Teune, S. & M. Sommer, 2017: Zwischen Emphase und Aversion. Großdemonstrationen in der Medienberichterstattung (unter Mitarbeit von Dieter Rucht). Berlin: Institut für Protest- und Bewegungsforschung.
Winship, C. & R.D. Mare, 1984: Regression Models with Ordinal Variables. American Sociological Review 49: 512–525.
Wooldridge, J.M., 2013: Introductory econometrics: a modern approach. Mason: Cengage Learning.
5. Endnoten
[1] Spiegel Online, 6.5.2015.
[2] Hamburger Abendblatt, 18.11.2016.
[5] Siehe Fußnote 3. Das in der ‚G20-Plattform‘ organisierte Bündnis „ums Ganze“ kritisiert diese Taktik, „so viele Tage vor dem Gipfel zu demonstrieren, dass ihre ‚Protestwelle’ garantiert niemanden stören kann” (…ums Ganze! u. a. 2017).
[6] Siehe Fußnote 4.
[9] Hamburger Abendblatt, 3.7.2017.
[10] Berliner Morgenpost / dpa, 8.7.2017.
[11] Neben den beiden genannten Demonstrationen gab es mit der ‚Welcome to Hell‘ Demonstration am 06. Juli 2017 eine weitere Großdemonstration, für die aber fast ausschließlich aus dem autonomen, linksradikalen Spektrum mobilisiert wurde. Die Teilnehmer*innen dieser Demonstration wurden von uns aber nicht befragt, weil es sich dabei nicht um eine Bündnisdemonstration der Gruppen und Organisationen des Vorbereitungskreises handelte und weil wir die Chancen, einen zufriedenstellenden Rücklauf von Fragebögen sicherzustellen, als nicht sehr hoch einschätzten.
[12] Umgekehrt geben 18,5% der Befragten auf der Abschlusskundgebung an, die ‚Protestwelle‘ besucht zu haben.
[13] Die Boxplots zeigen die Verteilung der Antworten bei den Teilnehmer*innen beider Demonstrationen. Die farbigen Balken markieren dabei den Bereich, in den die mittleren 50% der Antworten fallen, die dickere schwarze Linie in der farbigen Box markiert den Median der Verteilung, die gestrichelte rote Linie den Mittelwert.
[14] Bei der ‚Protestwelle‘ spielt die ‚Gewaltfrage‘ für die Motivation auf die Straße zu gehen (offene Frage) keine Rolle.
[15] Die abhängigen Variablen sind jeweils auf einer 5er-Skala gemessen, wobei die Zustimmung zu den oben beschriebenen Fragen von 1 ‚überhaupt nicht‘ bis 5 ‚voll und ganz‘ variiert. Es ist klar, dass die abhängigen Variablen nicht klassisch metrisch skaliert sind. Vor dem Hintergrund der hohen Fallzahlen und der Tatsache, dass es sich um eine ungerade Skalierung handelt, ist das Verfahren der multiplen, linearen Regression dennoch vertretbar (Winship and Mare 1984). In den Regressionsmodellen scheint Multikollinearität kein Problem zu sein. Für keinen Faktor überschreitet der Varianzinflationsfaktor (VIF) einen Wert von 1,6. Aller Werte liegen damit deutlich unter dem gemeinhin als „zu hoch“ eingestuften VIF-Wert von 10 (Wooldridge 2013: 98). Die Schätzung mit robusten Standardfehlern ist nahezu identisch.
[16] Frage im Wortlaut: “Wie zufrieden sind Sie mit der Demokratie wie sie in Ihrem Land funktioniert?“
[17] Der positive Zusammenhang für z.B. die politische Orientierung in der Regressionstabelle meint entsprechend, dass sich Personen, die sich weiter rechts bzw. eher in der Mitte der Skala positionieren, konfrontative Protestformen eher ablehnen.