Von Maren Heise und Philipp Knopp
ABSTRACT
Die Analyse der räumlichen Bewegungen der Geschehnisse rund um den G20-Gipfel 2017 in Hamburg ist zentral für das Verständnis der Eskalation. Die Interaktionen von Protestierenden und Einsatzkräften finden nicht nur in bestimmten Räumen statt, sondern prägen und verändern die Räume selbst. Sie laden sie mit Bedeutungen auf. Im Laufe der Protestwoche bilden sich Muster der Raumnutzung aus: Immer wieder konzentriert sich das Konfliktgeschehen im westlichen Innenstadtbereich. Im Artikel rekonstruieren wir die Bewegungen im Raum und suchen nach Antworten auf die Frage: Warum eskaliert das Geschehen genau dort? Titelbild: Screenshot aus dem Video “Welcome to Hell: Chronologie der Ereignisse” (Abendblatt TV via Youtube) |
1. Einleitung
Die besondere Geographie Hamburgs war ein wichtiges Thema der Debatten um den G20-Gipfel. Bereits die Wahl des Austragungsortes sorgte für Aufregung. Die Hamburger Messehallen wiesen auf der einen Seite wichtige infrastrukturelle Vorteile auf. Andererseits schätzten viele die Nähe zum linksalternativen Schanzenviertel als Sicherheitsrisiko ein, da dort auch eine für deutsche Verhältnisse starke autonome Strömung verankert sei. Der Hamburger Hafen gilt als Symbol des Freihandels und Drehscheibe der deutschen Exportwirtschaft und ist Teil der Gipfelinszenierung. Zugleich nutzen Protestierende die Nähe zu Wasser und Hafen für kreative Protestpraktiken von Bootsdemonstrationen bis Blockaden.
Eine weitere Komponente der Geographie Hamburgs ist die Repräsentation des Stadtraums in unzähligen Karten. Die Hamburger Polizei, Protestierende und viele Medien nutzten Karten zur Visualisierung der Geschehnisse. Auch unser Forschungsprojekt, das immerhin mit dem Namen „Mapping #NoG20“ gestartet ist, hat eine Karte der Ereignisse erstellt. In diesem kurzen Beitrag diskutieren wir räumliche Aspekte des G20-Gipfels, der Proteste und des Polizeieinsatzes anhand der Recherchen für diese Karte. Leitend für die Analyse ist die dreidimensionale Raumtheorie des Soziologen Henri Lefebvre (2006). Er geht der Frage nach, wie Räume die soziale Praxis prägen und zugleich sozial produziert und interpretiert werden.
Das bedeutet für unsere Untersuchung, dass wir den Stadtraum Hamburg in der Protestwoche als ein Ergebnis der Interaktion von Protest und Polizei, wie auch vorangegangener ‚historischer‘ Praxis analysieren. Zugleich gehen wir davon aus, dass die Charakteristika Hamburgs ihre Interaktion maßgeblich bedingen. Die Akteur*innen deuten den Raum und bestimmte Orte und planen ihr Handeln mit Bezug auf räumliche Aspekte bereits im Voraus. Sie schaffen dabei Raumrepräsentationen wie Karten, Zonen und medial verbreitete Bilder bestimmter Orte.
Für den französischen Philosophen Jacques Rancière kommt gerade dem Protest und seinem Aufeinandertreffen mit der Polizei eine besondere Rolle für die (Trans-)Formation von Räumen zu:
„Was geschieht, wenn Ordnungskräfte ausgesandt werden, um eine Demonstration zu unterbinden? Was geschieht, ist die Anfechtung der Verwendung eines Ortes. Aus der Perspektive derer, die die Ordnungskräfte verschicken, ist die Straße ein Raum der Zirkulation von Individuen und Waren. Die Angelegenheit der Gemeinschaft wird woanders verhandelt: in den öffentlichen Gebäuden, die dafür vorgesehen sind, mit den Personen, denen diese Funktion zugedacht ist. Die Demonstranten dagegen verwandeln den Raum der Zirkulation in einen Raum, in dem die öffentlichen Dinge verhandelt werden, in den Kundgebungsraum eines Subjekts.“ (Rancière 2000: 107)
Der Protest folgt also nicht nur Routinen und expliziten Regeln, die man an einem Ort befolgen soll, sondern verändert die Bedeutung des Raums und seine materielle Praxis. Was laut Ranciére entsteht, ist ein politischer Raum, in dem Menschen Belange verhandeln und sie an das Licht der Öffentlichkeit bringen. Er ist dadurch gekennzeichnet, dass neue Akteur*innen des Politischen in ihm erscheinen.
Für die Analyse der sozialen Raumproduktion im Zuge der Protestwoche rund um den G20-Gipfel lassen sich aus den theoretischen Annahmen einige Fragen ableiten: Welchen Rhythmus haben die Proteste und der Polizeieinsatz? Gibt es raumzeitliche Muster von Konfrontationen, die bestimmte Orte prägen? Wie sind die Aktivitäten über Hamburg verteilt, nebeneinander angeordnet und miteinander verbunden? Wie prägen Macht- und Herrschaftsverhältnisse die räumlichen Dynamiken? Welche „Ortseffekte“ (Bourdieu 1998) – also materiellen und symbolischen Qualitäten von Orten wie Stadtteilen, Straßenzügen etc., die ein bestimmtes Verhalten nahelegen oder begrenzen treten auf? Und zu guter Letzt werden wir versuchen aus der räumlichen Dynamik der Ereignisse Schlüsse zu ziehen, wie bestimmte Räume zu Eskalationsräumen werden?
In der folgenden Analyse von raumbezogenen Planungen und Interaktionen von Protest und Polizei nutzen wir Lefebvres Analyserahmen und gehen auf Bedeutungen von Räumen für die Akteur*innen ein und vollziehen die räumlichen Dynamiken nach.
2. Ausgangskonstellation: Raumbezogene Planungen
Großprotesten und Großeinsätzen der Polizei gehen monatelange Planungen voraus. Die interaktiven Raumplanungen prägen die Ausgangskonstellation maßgeblich. Der Raum Hamburg wird in diesem Prozess mit Blick auf Gefahren oder politische Symbole, Ziele und Inszenierungen entworfen.
Die Polizeiforschung befasst sich mit diesen raumbezogenen Maßnahmen unter dem Begriff „Policing Space“ (Herbert 1996; Fyfe 1991) und erforscht, wie die Polizei Stadträume prägt. In Hamburg beginnen Anpassungen an polizeiliche Funktionalitätsansprüche bereits früh. Sie limitiert per Allgemeinverfügung die Nutzungsrechte des zentralen Innenstadtbereichs und räumt sich die Möglichkeit ein, Versammlungen aufzulösen. Kritische Stimmen und Protestierende sprechen von einer 38 km2 großen „demokratiefreien Zone“[1]. Dieser von Protestierenden als „blaue Zone“ bezeichnete Bereich, der die Stadt aufgrund seiner Ausdehnung in zwei Hälften teilt, ist dem sicheren Transfer der Staatsgäste gewidmet. Den Kern der polizeilichen Aufteilung des Stadtraums bilden „gelbe“ und „rote Sicherheitszonen“. Die Zonen spiegeln die Priorität der Polizei für einen reibungslosen Ablauf des Gipfels wider. An den für das Sicherheitskonzept wichtigsten Orten verleiht sich die Polizei umfangreiche Eingriffsbefugnisse und errichtet auch materielle Absperrungen. Sie wiederholt dabei übliche Gipfelpraxis, die als Festungsbau bezeichnet wird (Wood 2014), geht aber hinsichtlich der Dimensionen über Bisheriges hinaus. Auf der Grundlage von Erfahrungen in der Hamburger Konfliktgeschichte deutet die Polizei insbesondere das Schanzenviertel als gefährlichen Ort. Da dezentrale Aktionsformen erwartet werden, schätzt die Hamburger Polizei auch viele weitere Orte als riskant ein. Rund um den Tagungsort in den Messehallen gibt es Zugangskontrollen und Durchlässe. Das Innere der „roten“ Zone ist durch Zäune und Sichtschutz abgegrenzt. Aus den „roten“ und „gelben“ Zonen werden auch nicht protestierende Personen ausgeschlossen, die keine Anwohner*innen sind oder andere als legitim betrachtete Zugangsrechte haben.
Die polizeiliche Raumproduktion hat Folgen für Planungen der unterschiedlichen Protestgruppen. Da sie eine Aufteilung der Stadt in ,sichere’ und ,unsichere’ Zonen symbolisiert und die Distanz der zwanzig Regierungschefs vom Protest und der Bevölkerung räumlich abbildet, ist die Raumordnung auch Ziel von Kritik, Gegenstand juristischer Auseinandersetzungen und nicht zuletzt von symbolischen Angriffen. Einige Protestgruppen rufen unter dem Motto „Colour the Red Zone“ zur Störung der polizeilichen Raumordnung auf. Die NGO „Attac“ und andere Gruppen führen Gerichtsprozesse gegen Kundgebungsverbote in der „blauen Zone“ in der Innenstadt. Andere richten ihre Protestplanung an möglichen polizeilichen Maßnahmen aus. Das „Welcome to Hell“-Bündnis zum Beispiel konzipiert seine Demonstrationsroute entlang einer erwarteten Verbotszone. Die Sorge um ein Verbot der Demonstration durch eine Sonderrechtszone bestimmt die Ortswahl also maßgeblich.
Die Symbole im Hamburger Stadtraum bieten den Protestierenden aber auch Möglichkeiten für die Inszenierung politischer Botschaften. So sorgen besondere lokale Qualitäten für Variationen in der üblichen Gipfelpraxis, da sie es dem Protest erlauben, globale Raumordnungen zu stören – symbolisch wie materiell. Demonstrationen zu Wasser mit Booten und Schiffen nutzen besonders augenscheinlich die besonderen Charakteristika Hamburgs. Globalisierungskritische NGOs suchen für ihre Protestaktionen die Nähe zum Hafen als Symbol des Freihandels und des exportorientierten deutschen Wirtschaftsmodells. Materiell will Greenpeace Kohleimporte kurzzeitig unterbinden und wird einen Frachter am Einlaufen in den Hamburger Hafen hindern. Das Bündnis „Shut down the Logistics of Capital“ plant globale Warenflüsse zu blockieren, die über den infrastrukturellen Knotenpunkt Hamburg laufen.
3. Bewegung im Protestgeschehen
3.1. Beginn der Proteste
Die Protestwoche beginnt mit dem Aufbau der beiden geplanten großen Protestcamps im Volkspark Altona, dem Nordwesten Hamburgs und der Halbinsel Entenwerder. Beide befinden sich abseits des Schanzenviertels, einem Zentrum der Hamburger Linken. Im Volkspark Altona veranstalten Protestierende am gleichen Tag ein Hip-Hop-Konzert und eine Kundgebung für das Protestcamp. Die Camps, die außerhalb des Stadtzentrums liegen, dienen zunächst auch als Orte für Protestveranstaltungen abseits des Stadtkerns. Die Camps sollen vor allem auswärtigen Protestierenden einen Ort zur Reproduktion, also für Verpflegung, Schlaf und als Rückzugsraum, und Kommunikation bieten. Sie sind jedoch von Anfang an juristisch umkämpft und gelten der Hamburger Polizeiführung als Rückzugsräume für militante Protestierende. Von der Polizei werden sie schon vor der Ankunft der meisten Gipfelgegner*innen als gefährliche Räume konstruiert. Sie werden somit Orte und Gegenstand eines Vorfeldkonflikts um Deutungen und legitime Raumnutzung.
Die Polizei räumt das Protestcamp in Entenwerder am Abend des 2. Juli trotz eines anders lautenden gültigen Beschlusses des Oberverwaltungsgerichts vorübergehend.
3.2. Cornern, Campen, „Welcome to Hell“
Ab Dienstag, den 4. Juli, verdichten sich die Protestereignisse im Innenstadtbereich. Es finden zahlreiche kleinere Kundgebungen und Demonstrationen statt. Der Alternativgipfel im nördlichen Stadtteil Winterhude stellt die einzige größere Veranstaltung außerhalb des Zentrums dar. Im Bereich Sternschanze, St. Pauli und zu einer Kundgebung in Ottensen treffen sich Tausende zum „Hedonistischen Massencornerns“ und dezentralen Protestieren. Die Aktionsform, die im Grunde aus dem Zusammentreffen vieler Menschen an Straßenecken und anderen öffentlichen Orten besteht und häufig mit dem Verzehr alkoholischer Getränke einhergeht, schließt an bestehende Raumnutzungen vor allem junger Hamburger Bürger*innen an.[2] Obwohl der G20-Gipfel selbst erst am 7. Juli beginnt, finden die Proteste bereits in unmittelbarer Nähe zum späteren Austragungsort im Schanzenviertel statt.
Eine zweite räumliche Veränderung zeichnet sich im Konfliktfeld ,Protestcamps’ ab. Das Camp Entenwerder gibt nach langem Streit offiziell auf. Ihr Abschlussstatement beendet die Camp-Vollversammlung mit den Worten „Wir sehen uns in der Innenstadt!“. Tatsächlich entstehen nun im westlichen Innenstadtbereich kleinere Ersatzcamps und symbolische Besetzungen in Parks und Grünanlagen. Andere Kundgebungen streiten im Volkspark Altona für das zweite Protestcamp. Zudem öffnen in St. Pauli, Altona und dem Schanzenviertel weitere Infrastruktureinrichtungen des Protests.
Für die räumliche Verteilung des Protests und des Konflikts mit der Polizei ist damit ein Scheidepunkt erreicht. Das Geschehen verlagert sich beinahe vollständig in den Westen Hamburgs und wird diesen nur noch in Ausnahmefällen verlassen. Dort überlagern sich nun verschiedene soziale Funktionen des Raums von der Reproduktion (Essen, Schlafen, Trinken) bis zum eigentlichen Protestieren. Für die Polizei ist dieser Raum von Beginn an ein gefährlicher Raum; nicht nur weil er sich in unmittelbarer Nähe zum Austragungsort des Gipfels befindet, sondern auch aufgrund bisheriger Erfahrungen.
Die „Welcome to Hell“-Demonstration am 6. Juli ist die nächste Großveranstaltung, die nach Konzerten und Redebeiträgen am Fischmarkt in St. Pauli starten soll, um an den Hamburger Messehallen zu enden. Kundgebung und Demonstration ziehen mehrere tausend Protestierende aus ganz Hamburg an und auch aus dem Altonaer Protestcamp gibt es eine Zubringerdemonstration, die bis auf 2.000 Teilnehmende anwächst.
3.3. Zerstreuung der „Welcome to Hell“-Demonstration
Nach der gewaltsamen polizeilichen Auflösung der „Welcome to Hell“-Demonstration direkt zu Beginn am Fischmarkt zerstreut sich der Aufzug. Zahlreiche kleine Gruppierungen ziehen durch St. Pauli, Altona und die Sternschanze. Es kommt immer wieder zu kleineren Gewaltereignissen abwandernder Gruppen in den Stadtvierteln, die in Hamburgs Geschichte immer wieder im Zentrum von Protesten standen. Container werden auf Straßen gezogen, der IKEA-Markt in der Großen Bergstraße wird mit Gegenständen beworfen, es gibt vereinzelte Zusammenstöße zwischen Polizei und Protestierenden.
Eine Ersatzdemonstration formiert sich und läuft mit mehreren tausend Menschen in Richtung Schanzenviertel. Dort konzentriert sich in den späten Abendstunden das Geschehen. In dem schon zuvor durch die Polizei und Hamburger Senat als gefährlich eingestuften Ort kommt es zu Ausschreitungen. Das Schulterblatt vor der ehemals besetzten Roten Flora wird ein erstes Mal polizeilich geräumt. Das Schanzenviertel bleibt für die weiteren Tage abendliches Konfliktzentrum.
Zudem ist festzustellen, dass es in den späten Abendstunden in weiter von den Messehallen entfernten Gebieten zu Revancheaktionen militanter Protestierender kommt. In Bekenner*innenschreiben äußern sich die vermeintlichen Angreifer*innen und beschreiben ihre Aktion als gegen die Polizeistrategie und Gentrifizierungsprozesse gerichtet.
3.4. Höhepunkt der Proteste
Am Morgen des 7. Juli findet zunächst eine deutliche Dezentralisierung der Proteste statt: Die Finger der Blockadeaktion „Colour the Red Zone“ bewegen sich unter anderem in Bahrenfeld im Stadtwesten und St. Georg – außerhalb des bisherigen Konfliktzentrums St. Pauli und Schanzenviertel. Sie werden zum Teil gewaltsam von der Polizei gestoppt. Eine Gruppe von ca. 200 Personen bewegt sich im Nordwesten aus dem Volkspark Altona in Richtung Rondenbarg, wo es zum Zusammenstoß mit der Polizei kommt. In Wilhelmsburg und auf Zufahrtswegen zum Hafen findet die Blockade „Shut Down the Logistics of Capital“ statt, während am Rande der „blauen“ Sonderrechtszone nur vereinzelte Protestveranstaltungen wie z. B. der Bildungsstreik stattfinden. Andere Kundgebung innerhalb der Sonderrechtszone wurden von Gerichten untersagt. Im Osten der Stadt dringt der rote Blockadefinger in die „blaue Zone“ ein und blockiert eine Protokollstrecke. Auch an anderen Orten gelingt es Protestierenden zum Teil massenhaft in die polizeilichen Sonderrechtsräume einzudringen und Blockaden zu errichten. Der angekündigte symbolische Angriff auf den polizeilichen Kontrollraum gelingt somit in Teilen. Während die Blockadefinger auf polizeiliche Absperrungen treffen, bleibt eine militante Demonstration auf der Elbchaussee unbehelligt von polizeilichem Eingreifen und sorgt für hohe Sachschäden.
Die Polizei ist mit ihrer Kontroll- und Raumpraxis auf die Ermöglichung und Sicherheit des Gipfels fokussiert. Sie hält Blockadefinger auf, die sich in Richtung Transferkorridore bewegen, und sperrt den Bildungsstreik auf dieser Seite mit verhältnismäßig starken Kräften ab. Interventionen in das Geschehen greifen dabei räumlich vor. Vor allem die „blaue Zone“ sollte in der Praxis also nicht als absolute Grenze zwischen totaler Kontrolle und laissez-faire missverstanden werden. Die Sonderrechtszone ist vielmehr als eine Form der polizeilichen Selbstermächtigung zu verstehen (vgl. Pichl 2014), die Definitionsmacht erhöht, Befugnisse erweitert und somit ein ermöglichender Faktor für die polizeiliche Kontrollpraxis (z. B. Versammlungsverbote) ist.
Die tatsächliche Polizeipraxis hängt von vielen weiteren Umständen ab, z. B. von ihren vorherigen raumbezogenen Gefahrenprognosen oder Verteilungen der Einsatzkräfte. Wie in der Nachbereitung im Hamburger Innenausschuss bekannt gegeben wird, verschätzt sie sich dabei in Teilen. Wasserwerfer und Einsatzhundertschaften sind am Morgen im Hafen und am Flughafen postiert, da dort auch militante Aktionen und Blockaden vermutet wurden. Diese Prognose bestätigt sich nicht. Um in der Innenstadt eingreifen zu können, müssen diese Einheiten erst verlegt werden.[3]
Am Nachmittag verschieben sich die Protestereignisse zurück ins Kerngebiet in St. Pauli: Die Aktionen vom Vormittag vereinen sich zu einer zweiten großen Blockadewelle, die zu den Landungsbrücken führt, um zur Elbphilharmonie vorzudringen. An den Landungsbrücken zerstreuen Einsatzkräfte die Protestierenden mit hohem Gewalteinsatz und setzen eine Bewegung in Richtung Schanzenviertel in Gang, u.a. weil Wege nach Osten direkt in die polizeilichen Sonderrechtszonen führen und entsprechend weitgehend versperrt sind. In der Folge kommt es im Bereich St. Pauli immer wieder zu Sachbeschädigungen und Zusammenstößen zwischen Polizei und Protestierenden.
Im Schanzenviertel, wo es wie auch an anderen Tagen tagsüber kaum Proteste oder Auseinandersetzungen gab, verdichten sich nun ab dem frühen Abend die Geschehnisse: Es kommt zu Sachbeschädigungen, brennenden Barrikaden und Plünderungen. Je weiter das Geschehen fortschreitet, desto weniger Ereignisse gibt es außerhalb des Schanzenviertels.
3.5. Ende der Protestwoche
Am Samstagmorgen (8. Juli) gibt es keine Protestereignisse außerhalb der Innenstadt, die Großdemonstration zieht die meisten Protestakteur*innen und auch das Polizeiaufgebot an. Teile der Demonstration begrenzt die Polizei mit starken Einsatzkräften. Abseits von dieser Veranstaltung gibt nur kleinere Kundgebungen und Demonstrationen peripherer Protestakteur*innen. Gegen Abend zieht es wieder Akteur*innen in das Schanzenviertel. Es kommt erneut zu Ausschreitungen, die aber kaum mehr mediale Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Auffällig ist an diesem Tag die hohe Zahl der Festnahmen und deren Verteilung über weite Teile des Stadtgebiets. Dazu zählen auch widerrechtliche und präventive Ingewahrsamnahmen, die zum Teil weit außerhalb des Stadtgebiets stattfinden sowie Ingewahrsamnahmen durch Hundertschaften, die scheinbar wahllos Menschen im Schulterblatt festnehmen, wie Protestierende berichten.
3.6. Bewegungsmuster
In der Analyse der raumbezogenen Deutungen und Praxis sowie den Raumdynamiken lassen sich Muster und Entwicklungsrichtungen ermitteln. Zu Beginn der Protestwoche finden die Ereignisse vor allem außerhalb des Innenstadtbereichs statt – hauptsächlich an den Orten, an denen die zentralen Protestcamps für tausende Protestierende geplant waren. Nach deren Beschränkung bzw. Auflösung formieren sich Ersatzcamps vor allem im westlichen Innenstadtbereich. Daraufhin ereignen sich bis zum Freitagmorgen mit der Hafenblockade und „Colour the Red Zone“ deutlich weniger Proteste in den Randgebieten. Je weiter die Woche fortschreitet und je näher der G20-Gipfel rückt, desto mehr können wir eine Verlagerung der Proteste in die räumliche Nähe des Austragungsortes und den westlichen Innenstadtbereich beobachten. Das bedeutet gleichzeitig auch die räumliche Nähe zu Orten wie St. Pauli mit der Hafenstraße und der Sternschanze, die schon seit Jahren als gefährliche Orte eingestuft und kriminalisiert werden. Hier finden vor allem in den Nächten von Donnerstag bis Samstag Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Protestierenden statt. Wir können beobachten, dass der Verschiebung der Interaktionen in das Schanzenviertel Gewaltereignisse an anderen Orten vorausgehen – am Donnerstag ist es die Zerschlagung der „Welcome to Hell“-Demonstration, am Freitag das Aufeinandertreffen von Polizei und Demonstrierenden im Zuge von „Colour the Red Zone“ und der beiden Blockadewellen im Hafen und an den Landungsbrücken. Selbst am Samstag gibt es nach der Großdemonstration noch Auseinandersetzungen im Schanzenviertel.
Dieses Muster ist auch tageszeitabhängig. Das Konfliktgeschehen konzentriert sich regelmäßig erst am Abend im Schanzenviertel und es ist hochgradig unreglementiert. Das heißt die Zusammenstöße entwickeln sich nicht aus angemeldeten Versammlungen oder offiziell geplanten Protestaktionen heraus.
Über die Protestwoche verteilt finden weiter entfernt vom Gipfelgeschehen sogenannte „Out-of-Control“-Aktionen statt, die sich die geringere Kontrollintensität in den Randbereichen der Stadt zunutze machen. Diese sind zum Teil mit städtischen Konflikten, z.B. um Gentrifizierungsprozesse, verbunden.
4. Schluss
In den Debatten um das Schanzenviertel als Eskalationsraum wird dieses oft an sich als Auslöser von Ausschreitungen und Gewalt betrachtet. Eine solche Sichtweise kann man als Raumfetischismus begreifen. Dabei wird Kriminalität als natürliche Eigenschaft des Raums angesehen, d. h. der Raum selbst wird als Ursache für die dort entstandene Kriminalität betrachtet (Belina & Wehrheim 2011). Wie Lefebvre gezeigt hat, sind Räume das Konstrukt sozialer Praktiken. Im Fall der Proteste gegen den G20-Gipfel geht die Polizei aber von eben dieser raumfetischisierenden Vorstellung aus und trägt so durch die Deutung des Raumes und damit verbundene Einsatztaktiken selbst zur Produktion spezifischer Eskalationsräume bei. Viele der Orte, die die Polizei als besonders gefährlich für den Ablauf des Gipfels ansieht, sind bestimmte Protestspektren wichtige symbolische Orte, die sie sich in langen lokalen Konflikten als Freiräume angeeignet haben. Die Deutungen und symbolischen Ansprüche auf Räume sind also Teil der Konfrontation zwischen Polizei und Protest.
Die polizeiliche Praxis und anziehende Faktoren während der Gipfelwoche bedingen die Konzentration der Ereignisse im westlichen Innenstadtraum: Infolge der Verhinderung des Camps Entenwerder entstehen vor allem im westlichen Innenstadtbereich Ersatzcamps und auch der Großteil der Protestinfrastruktur wie „Küfas“ (Küche für alle), Infopoints und Erste-Hilfe-Stationen findet sich nun dort. Gleichzeitig sind St. Pauli und die Sternschanze die Orte, in die es Besucher*innen und Bewohner*innen zum Essen, Ausgehen und Leben zieht. Es sind belebte Räume, in denen der Protest auch ein Publikum für seine Botschaften erwarten kann.
Die Polizei produziert diesen Raum mit, da er ein zentrales Feld ihrer Kontrollpraxis ist. Insbesondere am Freitag ist zu beobachten, dass sie Proteste immer wieder in Richtung Schanzenviertel abdrängt oder zerstreut.
Im Resultat sind vor allem das Schanzenviertel und St. Pauli geprägt von diversen, sich zum Teil diametral entgegenstehenden Nutzungsweisen und sich überlagernden ortsgebundenen Ansprüchen und Interessen von Protestierenden, Partygästen, Anwohner*innen und Polizei. Die räumliche Praxis der Beteiligten ist eng mit Konflikterfahrungen der Stadtgeschichte und der Proteste der Globalisierungsbewegung verbunden.
Die Art und Weise der Austragung von Raumkonflikten wird aber nicht nur reproduziert. Stattdessen bilden sich neue raumbezogene Praktiken aus (z. B. Blockade des Hafens und die Häufung von Protestformen zu Wasser). Bisherige Praktiken nehmen neue Qualitäten an (z.B. Größe der polizeilichen Sonderrechtszone). Inwieweit diese raumproduzierenden Praktiken sich in Hamburg oder im Zuge anderer Gipfelproteste fortsetzen und wiederholen, bleibt abzuwarten. Fest steht jedoch, dass die Konflikte um symbolische Orte, Deutungen bestimmter Räume und Nutzungsweisen den Konflikt zwischen Polizei und Protest mitprägen. Dies gilt sowohl für die Art und Weise der Konfliktaustragung, wie auch für die Frage, an welchen konkreten Orte sich Eskalationen ereignen. Dass das Schanzenviertel und insbesondere das Schulterblatt spätestens ab dem Tag der „Welcome to Hell“-Demonstration allabendlich zu einem abendlichen Eskalationsraum, wird aus den raumbezogenen Interaktionsmustern der Protestwoche verstehbar, die wiederholt eine Verlagerung der Ereignisse in diesen Bereich begünstigten.
5. Literatur
Belina, B. & J. Wehrheim, 2011: „Gefahrengebiete“. Durch die Abstraktion vom Sozialen zur Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen. Soziale Probleme 23: 207–230.
Bourdieu, P., 1998: Ortseffekte. S. 117–127 in: P. Bourdieu & A. Accardo (Hrsg.), Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz: UVK.
Fyfe, N.R., 1991: The Police, Space and Society. The Geography of Policing. Progress in Human Geography 15: 249–267.
Herbert, S., 1996: Policing Space. Territoriality and the Los Angeles Police Department. Minnesota: Minnesota University Press.
Lefebvre, H., 2006: Die Produktion des Raums. S. 330–342 in: J. Dünne, S. Günzel, H. Doetsch & R. Lüdeke (Hrsg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Pichl, M., 2014: Zur Entgrenzung der Polizei – eine juridische und materialistische Kritik polizeilicher Gewalt. Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 97: 249–266.
Rancière, J., 2000: Konsens, Dissens, Gewalt. S. 97–112 in: M. Dabag, A. Kapust & B. Waldenfels (Hrsg.), Gewalt. Strukturen, Formen, Repräsentationen. München: Fink.
Wood, L.J., 2014: Crisis and control. The Militarization of Protest Policing. London, Toronto. New York: Pluto Press.
6. Endnoten
[1] Vgl. z.B. Attac, 11.04.2017.
[2] Straßenecken als zentraler Ort der Entstehung von Sozialgefügen sind bereits Gegenstand eines ethnographischen Klassikers von William F. Whyte mit dem Namen „Street Corner Society. The Social Structure of an Italian Slum“ aus dem Jahr 1943.
[3] Wortprotokoll Innenausschuss, S. 85f.