von Philipp Knopp, Peter Ullrich und Michael Plöse
ABSTRACT
Der Beitrag behandelt Festnahmen und Ingewahrsamnahmen während der G20-Proteste, erklärt die unterschiedlichen Zwecke der Maßnahmen, ordnet sie räumlich und zeitlich in den Protestverlauf ein und erläutert die umstrittenen Vorgänge um die Gefangenensammelstelle (Gesa) „Neuland“ in Hamburg-Harburg. Abschließend beleuchten wir die Verurteilungen im Nachgang der G20-Proteste. Titelbild: Robert Anders (cc-by via Flickr) |
Die Anzahl der freiheitsentziehenden Maßnahmen, insbesondere die Zahl der Fest- und Ingewahrsamnahmen wird in der Öffentlichkeit oft als ein Gradmesser der Eskalation wahrgenommen. Viele Festnahmen suggerieren ein hohes Aufkommen von Rechtsverstößen, mithin auch von Gewalt. In diesem Beitrag tragen wir zusammen, was über Ingewahrsamnahmen und Festnahmen im Rahmen der G20-Proteste in Hamburg bekannt ist, ordnen sie in das Gesamtgeschehen ein und beleuchten die Prozesse in der Gefangenensammelstelle „Neuland“, die die Hamburger Polizei extra für den G20-Gipfel eingerichtet hat.
1. Freiheitsentziehende Maßnahmen
Freiheitsentziehende Maßnahmen gehören zu den Standardmaßnahmen des polizeilichen Umgangs mit Protest. Die jeweilige Berechtigung hierzu speist sich aus der zwei- bzw. dreigestaltigen Aufgabenstellung der Behörde als Vertreterin des staatlichen Gewaltmonopols: Als Polizei im materiellen Sinne hat sie Gefahren abzuwehren und Störungen zu beenden. Als Ordnungsbehörde dient sie der Aufklärung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten. Als Strafverfolgungsbehörde soll sie die Effektivität des Strafverfahrens durch Beweissicherung und ggf. Festsetzung von Verdächtigen gewährleisten. Während das sog. Opportunitätsprinzip der Polizei bei der Ahndung von Ordnungswidrigkeiten und der Abwehr von Gefahren in der Regel einen weitgehenden Ermessensspielraum einräumt, ob und wie sie gegen Regelverstöße vorgeht, schreibt das sogenannte Legalitätsprinzip vor, dass sie zur Verfolgung von Straftaten in der Regel gesetzlich verpflichtet ist.
Jeder der drei Aufgaben liegen andere gesetzliche Befugnisse und andere hierarchische Verantwortungs- und Weisungsketten zugrunde. Bei Zielkonflikten kommt der Abwehr von Gefahren die höchste Bedeutung zu. Die Strafverfolgung darf jedoch nur zurückgestellt werden, nicht gänzlich unterbleiben. In diesem Rahmen gehören Fest- und Ingewahrsamnahmen zwar beide zu den freiheitsentziehenden polizeilichen Maßnahmen. Allerdings dienen erstere der Strafverfolgung. Letztere verfolgen die Abwehr von Gefahren und sind im landesspezifischen Polizeirecht geregelt.
Ingewahrsamnahmen bezwecken die Durchsetzung polizeilicher Anordnungen (z.B. von Versammlungsausschlüssen oder Platzverweisen, aber auch die Durchführung von Identitätsfeststellungen oder erkennungsdienstlichen Maßnahmen), die Verhinderung oder Beendigung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten oder den Schutz privater Rechte (vgl. § 13 HbgSOG). Zur Verhinderung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit können Personen in Hamburg auf richterliche Anordnung bis zu 10 Tage in Polizeigewahrsam verbleiben, wenn die Polizei eine Wiederholungsgefahr begründen kann (§§ 13 Abs. 1 Nr. 2, 13a, 13c Abs. 1 Nr. 3 HbgSOG).
Im Gegensatz dazu erfolgen vorläufige Festnahmen auf der Grundlage der bundeseinheitlichen Strafprozessordnung (§§ 127 ff. StPO) und setzen einen dringenden Tatverdacht voraus, d.h. konkrete Tatsachen, die mit großer Wahrscheinlichkeit darauf hinweisen, dass die festgenommene Person Täter*in oder Teilnehmer*in einer nicht unbedeutenden Straftat ist. Zusätzlich muss als Festnahmegrund entweder Fluchtgefahr oder die Unmöglichkeit einer sofortigen Identitätsfeststellung gegeben sein.
2. Einige Zahlen
Insgesamt verbrachte die Polizei im Zusammenhang mit dem Protestgeschehen vom 1. bis 9. Juli 2017 449 Personen in die Gefangenensammelstelle (GeSa).[1] Davon verlängerten Richter*innen den Gewahrsam in 103 Fällen zusätzlich. Im Maximalfall waren Protestteilnehmer*innen, die nicht in Untersuchungshaft genommen wurden, bis zu 63 Stunden in polizeilichem Gewahrsam. Für 49 Personen ordneten Richter*innen Untersuchungshaft zu Zwecken der Strafverfolgung an (§§ 112 ff. StPO, dazu noch unten). Die meisten freiheitsentziehenden Maßnahmen (189) führte die Polizei am Samstag, den 8. Juli, durch. An diesem Tag fand die Großdemonstration „Grenzenlose Solidarität statt G20“ statt. Insbesondere tagsüber verlief dieser Tag nach Polizeiangaben weitestgehend friedlich. Am Aktionstag des 7. Juli, der neben einer Vielzahl von Demonstrationen und Kundgebungen hauptsächlich durch Aktionen des zivilen Ungehorsams wie Blockaden geprägt war, brachten Einsatzkräfte 173 Personen in Gewahrsam. Nicht nur die Auseinandersetzungen rund um die Blockaden und militanten Aktionen, sondern auch die abendlichen Ausschreitungen im Schanzenviertel spielen hier eine gewichtige Rolle für die hohe Anzahl der Freiheitsentziehungen. Am Tag der „Welcome to Hell“-Demonstration setzte die Polizei hingegen nur 30 Personen fest. Diese Daten zeigen, dass die Zahl der Ingewahrsamnahmen und vorläufigen Festnahmen nicht einfach spiegelbildlich für den Grad der Eskalation stehen. Nach heutigem Kenntnisstand müssen sie vielmehr u.a. als Ausdruck unterschiedlicher polizeilicher Einsatzstrategien eingeordnet und zum Teil hinsichtlich ihrer Rechtmäßigkeit relativiert werden.
Abbildung 1: Festnahmen/Ingewahrsamnahmen im Verlauf der Protestwoche
2.1. Relativierungen
Mit Bezug auf die hohe Zahl freiheitsentziehender Maßnahmen am 8. Juli sind zwei Fälle statistisch besonders relevant, die von den Gerichten später als rechtswidrig festgestellt wurden. In der Zählung enthalten sind 44 Personen, die die Bereitschaftspolizei an der Anreise zur Demonstration „Grenzenlose Solidarität statt G20“ hinderte. Der Bus der „SDJ – Die Falken“ wurde während der Anfahrt polizeilich eskortiert und noch an der Autobahn durchsucht; alle Insassen samt Bus wurden in die GeSa verbracht. Polizist*innen führten 8 Personen in die GeSa, wo Durchsuchungsmaßnahmen durchgeführt wurden (s.u.). Erst nachdem der Bus bereits mehrere Stunden in der GeSa aufgehalten worden war, erkannten die Beamt*innen, dass wohl ein Irrtum vorgelegen hatte. Die Maßnahme erwies sich im Nachhinein als rechtswidrige Freiheitsentziehung. Hinzu kommt eine ebenfalls unrechtmäßige Ingewahrsamnahme einer Gruppe von 15 Italiener*innen im Umfeld der Großdemonstration „Grenzenlose Solidarität statt G20“.[2] Allein unter Berücksichtigung dieser gerichtlich überprüften Fälle erfolgte über ein Zehntel der Ingewahrsamnahmen der gesamten Protestwoche rechtswidrig. Für die hohe Zahl der Freiheitsentziehungen am 7. Juli ist die Konfrontation eines Blockadefingers mit der Polizei im Rondenbarg besonders ausschlaggebend. Dort setzten Bundespolizist*innen um ca. 6:30 Uhr 53 Personen fest. Diese Masseningewahrsamnahme ist auch deswegen umstritten, weil mit ihr ein Massenanfall an verletzten Demonstrierenden einherging.
2.2. Räumliche Verteilung von freiheitsentziehenden Maßnahmen
Das räumliche Zentrum der freiheitsentziehenden Maßnahmen bildete das Stadtviertel Sternschanze zusammen mit dem angrenzenden Karolinenviertel. Aus den zentralen Innenstadtgebieten wurden 56 Personen in Gewahrsam verbracht. In St. Pauli waren es in der gesamten Protestwoche 51. Insgesamt führten die Einsatzkräfte eine Vielzahl der Ingewahrsamnahmen auch in den Bereichen durch, in denen es zu größeren Konfrontationen zwischen Polizei und Protestierenden kam.
Auffällig ist jedoch, dass es während der gewaltintensiven Räumung der „Welcome to Hell“-Demonstration am 6. Juli 2017 zu wenigen Fest- und Ingewahrsamnahmen kam – insgesamt neun, die alle nach der Auflösung stattfanden. Als die Polizei am Freitagnachmittag (7. Juli) die teils militanten Blockadeaktionen vor der Elbphilharmonie zerstreute, tätigte sie wiederum keine Festnahmen. Dies weist daraufhin, dass Einsatztaktiken wie Räumungen, die einen hohen polizeilichen Gewalteinsatz erfordern, nicht vorrangig der Festsetzung von Straftäter*innen, sondern der „Lagebereinigung“ als Einsatzziel dienen. Die Strafverfolgung wird zurückgestellt.
2.3. Untersuchungshaft
Wenn Festgenommene dringend tatverdächtig sind und die begründete Gefahr besteht, sie könnten sich dem Strafverfahren entziehen oder dessen Durchführung negativ beeinflussen, können Richter*innen gegen sie Untersuchungshaft anordnen. Konkrete Gründe hierfür sind bspw. Verdunkelungs- oder Fluchtgefahr. Bei Schwerkriminalität gelten geringere Maßstäbe. Von Untersuchungshaft sind besonders Personen ohne festen Aufenthalt im Bundesgebiet sowie Verdächtige mit hohen Straferwartungen, insbesondere bei schweren Straftaten mit Wiederholungsprognose, betroffen. Zu den schweren Straftaten gehören auch die schwere Körperverletzung und der schwere Landfriedensbruch – beides versammlungstypische Tatvorwürfe.
Während des G20-Gipfels ordneten Richter*innen insgesamt 49-mal Untersuchungshaft an.[3] Besonders oft wurde Untersuchungshaft bei Personen angeordnet, die in Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Protestierenden am Rondenbarg verwickelt waren (11 Personen). In den Abendstunden des 6. bis 9. Juli nahmen Einsatzkräfte im Umfeld der Ausschreitungen im Schanzenviertel 18 Personen fest, gegen die später Untersuchungshaft angeordnet wurde. Die Hälfte der in Untersuchungshaft genommenen Personen sind deutsche Staatsbürger*innen.
3. „Neuland“ in Hamburg-Harburg: Die Gefangenensammelstelle
Um Personen festzuhalten, die vorläufig festgenommen sind, Richter*innen zur Entscheidung über die Anordnung von Polizeigewahrsam vorgeführt oder Anschlussmaßnahmen wie Identitätsfeststellungen, erkennungsdienstlichen Behandlungen oder Befragungen unterzogen werden sollen, richtete die Hamburger Polizei eigens für den G20-Gipfel eine Gefangenensammelstelle (GeSa) ein. Diese befand sich in Hamburg-Neuland im Bezirk Harburg; weit abseits des Protest- und Gipfelgeschehens. Die Gefangenensammelstelle und die darin eingerichtete Zweigstelle des Amtsgerichts erhielten den Beinamen „Neuland“.
Die Sammelstelle hatte bis zu 400 Verwahrplätze und befand sich in einer ehemaligen Großmarkthalle. Es gab einen gesonderten Justizbereich, um Haftbefehle und andere Maßnahmen, die einen richterlichen Beschluss benötigten, effizient – das heißt vor allem ohne weitere Transportwege – bearbeiten zu können. Die Richter*innen arbeiteten im Drei-Schicht-System. Die Installation der Zellen, Verhörräume usw. überwachte die „Nationale Stelle zur Verhütung von Folter“. Vor dem Gipfel wurde die GeSa der Öffentlichkeit präsentiert. Der Pressesprecher der Hamburger Polizei Timo Zill versprach vorab, dass die Gefangenensammelstelle „rechtsstaatlich höchsten Standards“ genügen werde (Zill zit. nach Vicky Baustian (PÖA 2) 2017).
Auch auf Seiten der Protestierenden gab es Vorbereitungen auf „Repression“. Der „Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein“ (RAV) rief einen „Anwaltlichen Notdienst“ für den G20-Gipfel ins Leben, der u.a. Festgenommene in der GeSa juristisch begleitete. Bereits vor der G20-Protestwoche demonstrierten 300 Personen unter dem Motto „GeSa to Hell“ gegen die erwartete „staatliche Willkür und Repression“ sowie gegen Gefängnisse im Allgemeinen. Während des G20-Gipfels organisierten Solidaritätsorganisationen zwei Dauerkundgebungen und einen Infopoint in unmittelbarer Nähe der GeSa „Neuland“ zur Unterstützung der Festgenommenen. So geriet die Gefangenensammelstelle bereits vorab in den Blick der Öffentlichkeit.
Während des Gipfels kam es in der GeSa wiederholt zu Maßnahmen, die sowohl juristisch angefochten wurden, als auch mediale Aufmerksamkeit erregten. Einsatzkräfte brachten Dutzende Protestierende unrechtmäßig in die GeSa (s.o.). Zudem sorgte die Behandlung der Ingewahrsamgenommenen und die Kontrolle ihrer Anwält*innen für Kritik. Das Hamburger Landgericht bemängelte im Nachhinein, dass die Vorführung von festgehaltenen Personen vor eine*n Richter*in zu lang gedauert habe. Damit sei gegen das Unverzüglichkeitsgebot verstoßen worden. Einige Betroffene warteten mehr als 40 Stunden bis zur Vorführung vor eine*n Richter*in. Im Durchschnitt dauerte dies während der Protestwoche ca. 23 Stunden und 15 Minuten.
Im Nachgang des G8-Gipfels in Heiligendamm hatte das Oberlandesgericht Rostock festgestellt, dass für das Einschalten des/der Richter*in tagsüber eine Zeit von 2 bis 3 Stunden ausreichend sein sollte; bei einer Vielzahl von in Gewahrsam genommenen Personen, die zunächst erfasst werden müssen, hatte es auch drei Stunden für „noch unverzüglich“ ausreichen lassen.[4] Bei sachlich rechtfertigenden Gründen kann diese Zeitspanne auch deutlich höher liegen. So hat das Bundesverfassungsgericht im Fall einer Festnahme anlässlich des Castortransportes 2011 bei Dannenberg mit deutlich längerem Transportweg auch 13 Stunden noch für verfassungskonform angesehen.[5] Das Landgericht Hamburg stellte demgegenüber für die Abläufe in der GeSa-„Neuland“ fest, dass den Akten keine „sachlich rechtfertigenden Gründe zu entnehmen [seien], warum es gut 17 Stunden von der Festnahme bis zur Bekanntmachung der amtsgerichtlichen Entscheidung über die Ingewahrsamnahme gedauert hat“.[6] Angesichts der Tatsache, „dass die staatlichen Stellen vorbereitet waren und mit eben dieser Lage gerechnet haben“, sah das Landgericht eine über 12 Stunden andauernde Haft ohne richterliche Entscheidung über deren Fortdauer bei Fehlen weiterer Rechtfertigungsgründe insgesamt als „von Beginn an rechtswidrig“.
Des Weiteren kam es zu Nacktuntersuchungen nach Anwaltsgesprächen. Betroffene berichteten von entwürdigender Behandlung. Einige hätten nicht schlafen können, weil sie halbstündlich zur „Lebendkontrolle“ geweckt wurden und das Licht in den Zellen dauerhaft brannte. Sie bekamen kaum Verpflegung und seien von Polizist*innen beschimpft, erniedrigt und eingeschüchtert worden. Auch der Leiter der SOKO „Schwarzer Block“ (dazu unten) kritisierte im Nachhinein öffentlich die Durchsuchungsmethoden in der GeSa.
„Wir erhielten erstmals nach etwa acht Stunden Nahrung, und zwar 36g Knäckebrot pro Person. … [und] 20g Schmelzkäse. … Das zweite Mal erhielten wir Knäckebrot erst weitere 12 bis 15 Stunden später.“
Erinnerungsprotokoll, RAV-Informationsbrief #114, 2017: „G20-Gipfel in Hamburg”, S. 31
Anwält*innen sahen sich in der Ausübung ihrer Tätigkeit als Rechtsbeistand prozesswidrigen Hürden ausgesetzt. Ihnen sei der Zugang zu Mandant*innen erst spät ermöglicht worden. Ausreichende Örtlichkeiten zur vertraulichen Durchführung des Anwaltsgesprächs hätten nicht zur Verfügung gestanden und Akten seien teilweise erst auf dezidiertes Beharren im Haftprüfungstermin zur Einsicht gegeben worden. Der „Anwaltliche Notdienst“ beklagt, dass Behördenvertreter*innen Anwält*innen die Kontaktaufnahme mit Inhaftierten teilweise offensiv verweigerten und sie beschimpften. Es sei auch zu „gravierenden Einzelfällen“ (RAV-Anwalt, 22019-INT) gekommen: Polizist*innen hätten Entkleidungen und Kontrollen von Körperöffnungen nach Besprechungen zwischen Anwält*innen und Mandant*innen durchgeführt, wichtige Hygienemittel verweigert und einer Person das Tragen ihrer äußerst starken Brille untersagt.
„Ich muss trotzdem sagen, dass natürlich an einigen oder an vielen Punkten das Ausmaß dann doch einfach überrascht hat, mich überrascht hat, mich auch in Teilen ein bisschen desillusioniert hat, was die Erwartungen an Rechtsstaatlichkeit angeht.“
RAV-Anwalt (22019-INT)
„Das war bei mir jetzt nicht so dramatisch, weil ich wurde halt auch abgetastet, aber nur über der Kleidung. Und gerade bei den Hinteren oder auch bei Minderjährigen gab es dann Menschen, die komplett ausgezogen wurden, wo Körperöffnungen überprüft wurden. […] Auch bei Minderjährigen, die ja einen besonderen Schutz genießen. Auch die durften weder ihre Eltern noch irgendeinen Anwalt anrufen […]“,
Landesvorsitzender der Falken NRW (14007-INT)
„66 Prozent der Durchsuchungen erfolgten bei vollständiger Entkleidung. Das ist nur schwer zu erklären und im Einzelfall überhaupt nicht zu rechtfertigen.“
Jan Hieber, Leiter der SOKO „Schwarzer Block“ in der Hamburger MOPO
4. Folgen
Nach Ablauf des Gipfels forderten diverse Politiker*innen, die „Deutsche Polizeigewerkschaft“ (DPolG) und einige Medienvertreter*innen harte Strafen gegen militante Protestierende. Bis Juni 2018 wurden 36 beschuldigte Protestierende zu Freiheitsstrafen verurteilt (30 davon auf Bewährung), sechs Personen mit Geldstrafen und mindestens 32 mit Strafbefehlen[7] belangt. 10 Beschuldigte wurden nach Jugendstrafrecht verurteilt. 236 Verfahren wurden eingestellt. Dem Protest nahestehende Organisationen wie der „Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein“ und die Hamburger Linkspartei kritisierten die bisherigen Urteile als besonders hart.
Um weiterer Tatverdächtiger habhaft zu werden, bildete die Hamburger Polizei mit Unterstützung aus anderen Bundesländern eine Ermittlungskommission, die unter dem Namen „SOKO Schwarzer Block“ firmiert. Sie wertet im Nachgang des Gipfels sehr große Datenmengen und Videomaterial aus. Das Vorgehen der SOKO erregte bundesweites Aufsehen aufgrund ihrer umfangreichen Öffentlichkeitsfahndung, die in diesen Dimensionen ein Novum in der bundesrepublikanischen Geschichte darstellt. Die Kritik hob vor allem die von den öffentlichen Fahndungsfotos ausgehende Prangerwirkung hervor.
“Meine Hoffnung ist, dass eine der Konsequenzen sein wird, dass die Gewalttäter, die wir gefasst haben […] mit sehr hohen Strafen rechnen müssen”
Olaf Scholz zitiert in SPIEGEL ONLINE
„Die Urteile sind oft milde, zu milde. Und in den Medien schwingt gern so eine verherrlichende Spaßigkeit mit.“
Joachim Lenders, DPolG und CDU Hamburg, Mitglied des Sonderausschusses im Interview mit SPIEGEL ONLINE
Auch für die Protestierenden war der Gipfel nach dem Gipfel noch nicht vorbei. Neben einer breiten Debatte über legitime Protestformen, widmeten sich Solidaritätsorganisationen der Begleitung von Gerichtsprozessen und Unterstützung von inhaftierten Protestteilnehmer*innen. Hierfür gründete sich die Kampagne „United We Stand“. Besonders rund um den Fall des jungen Italieners Fabio V., der bei Auseinandersetzungen am Rondenbarg festgenommen wurde und später in Untersuchungshaft kam, gab es breite mediale Debatten. Viele Unterstützer*innen kritisieren das Vorgehen der Justiz gegen den 19-Jährigen als unverhältnismäßig, zumal ihm die Staatsanwaltschaft gar keine Gewaltstraftat zur Last legen konnte.
Straf- und dienstrechtliche Ermittlungen gab und gibt es auch gegen Polizist*innen, allerdings mit einer bislang geringen Aufklärungs- und Verfolgungsquote. Wegen strafrechtlichen Vorwürfen gegen Polizist*innen lagen dem Dezernat Interne Ermittlungen der Hamburger Polizei (DIE) bis Mitte Mai 2018 155 Ermittlungsverfahren vor.[8] Davon bezogen sich 121 auf Körperverletzung im Amt, die häufig als (illegale) Polizeigewalt bezeichnet wird. Bis Mai 2018 gab es keine Verurteilungen, aber 52 Verfahrenseinstellungen durch die verfahrensleitende Staatsanwaltschaft. Gründe für die Einstellungen waren oft fehlende Kenntnis über die Identität von Geschädigten bzw. Zeug*innen, mangelnde Beweise, nicht entkräftete bzw. überprüfbare Behauptungen über das Vorliegen von Rechtfertigungsgründen für polizeiliche Gewaltanwendung sowie das Problem mangelnder Identifizierbarkeit von Polizist*innen. Mittlerweile soll in Hamburg eine Kennzeichnungspflicht für uniformierte Beamt*innen eingeführt werden.
5. Endnoten
[1] Alle folgenden Angaben beziehen sich auf die quantitative Analyse von Daten aus der der kleinen Anfrage in der Hamburger Bürgerschaft Drs. 21/13300
[2] Vgl. Verwaltungsgericht Hamburg, Urteil vom 5. Juni 2018, Az. 17 K 1823/18.
[3] Alle folgenden Angaben beziehen sich auf die quantitative Analyse von Daten aus der der kleinen Anfrage in der Hamburger Bürgerschaft Drs. 21/13300.
[4] OLG Rostock, Beschluss vom 21. August 2007, Az. 3 W 102/07, zitiert nach juris: Rn. 28 und 32.
[5] Vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 18. April 2016, Az. 2 BvR 1833/12, 2 BvR 1945/12.
[6] LG Hamburg, Beschluss vom 25. Mai 2018, Az. 301 T 277/17.
[7] Strafbefehlsverfahren (§ 407 ff. StPO) sind vereinfachte Strafverfahren, die der Entlastung der Gerichte dienen. Das Vorgehen nutzen Staatsanwaltschaften vor allem bei der Bewältigung geringfügiger Fälle, in denen die Beweislage eindeutig erscheint und die im Wesentlichen nur mit Geldstrafe geahndet werden. Deswegen findet keine mündliche Hauptverhandlung statt. Das zuständige Gericht prüft lediglich, ob die angeschuldigte Person nach Aktenlage entsprechend des Antrags der Staatsanwaltschaft hinreichend tatverdächtig ist und entscheidet über den Erlass des Strafbefehls. Folgt das Gericht dem Antrag der Staatsanwaltschaft, wird der Strafbefehl der/dem Angeklagte*n oder deren/dessen Vertreter*innen zugestellt. Die Angeklagten können hiergegen innerhalb von zwei Wochen Einspruch erheben, was die Durchführung der Hauptverhandlung und im Falle der Verurteilung entsprechende Kosten zur Folge hat. Bei der Durchführung der mündlichen Verhandlung ist das Gericht an die im Strafbefehl festgesetzte Strafe nicht mehr gebunden, diese kann also ggf. deutlich höher ausfallen. Um das zu vermeiden, kann der Einspruch beschränkt werden.
[8] Allen folgenden Angaben liegt die kleine Anfrage in der Hamburger Bürgerschaft Drucksache 21/12897zugrunde.